Traumzeit
hat vier Beine; ein Vogel war dementsprechend ›Zwei‹ und ein Känguruh stand für ›Drei‹.
Joanna erfuhr auch, daß der Tod für die Aborigines nur ein anderer Abschnitt des Lebens war. Man starb nicht, man ›ging zurück‹. Wer starb, wurde zu einem Ahnen. Als Naliandrah Joanna nach ihrem Träumen fragte, und Joanna sagte, das wisse sie nicht, hatte die weise alte Frau nachdenklich den Kopf geschüttelt und gefragt: »Und was wird aus deiner Seele, wenn du zurückgehst?«
Schließlich stellte Joanna fest, daß die Frauen von sich nicht als ›Frauen‹ sprachen; sie waren die ›Töchter der Traumzeit‹.
Joanna hatte bei der Sippe große Verwunderung ausgelöst. Man hatte sie beobachtet und festgestellt, daß sie dem Traumpfad der Känguruh-Ahne folgte. Als man sie nach ihrem Totem fragte, erinnerte sich Joanna an Sarahs Worte vor vielen Jahren und antwortete ›Känguruh‹. Daraufhin nickten alle zustimmend. Sie glaubten inzwischen, Joanna habe eine Beziehung zu der Sippe. Und da sie eine weiße Haut besaß und Weiß die Farbe der Geister war, stellte man sich vor, der Geist einer Ahne sei in sie gefahren.
Danach wuchs das Vertrauen der Frauen zu ihr, und sie weihten Joanna in ihre Geheimnisse ein. Sie beantworteten auf ihre Art sogar Joannas Fragen nach der geistigen Verbindung zwischen Müttern und Töchtern, nach den Traumpfaden, die die Generationen miteinander verbanden. Die Frauen ließen Joanna an ihren Ritualen teilnehmen. Naliandrah versuchte, ihr die Bedeutung der
Corroborees
zu erklären. Es ging dabei um die Fruchtbarkeit der Erde, um Sterndeutung, um das Heilen und das Erzeugen von Leben.
Aber als Joanna die alte Naliandrah fragte: »Kennst du Djoogals Sippe? Kennst du Karra Karra?«, wurde ihr Gesicht plötzlich ausdruckslos und sie schwieg.
Joanna und Lisa sahen neugierig zu, wie Coonawarra die anderen Frauen mit ihren Späßen unterhielt. Joanna nickte und sagte: »Ja, sie scheinen glücklicher zu sein als üblich. Ich glaube nicht, daß wir etwas zu befürchten haben.«
»Aber sie sind so unruhig«, erwiderte Lisa. »Was mag der Grund dafür sein?«
Winning-Arra, ein junges Mädchen, beteiligte sich nun ebenfalls an dem grotesken Possenspiel. Sie hielt ihren Grabstock wie einen Speer und hüpfte dabei auf einem Bein auf und ab. Auch sie ahmte einen der Männer nach und erntete damit Gelächter. Joanna warf einen Blick auf die Körbe und die geflochtenen Tragetaschen auf dem Rücken der Frauen und staunte wieder einmal über ihre Fähigkeit, in diesem scheinbar unfruchtbaren Land soviel Nahrung zu finden. Joanna dachte an das Skelett, auf das sie gestoßen war. Dieser Mann war zweifellos verhungert, weil er in der Wüste nichts Eßbares gefunden hatte. Aber Coonwarra, Winning-Arra und alle anderen sammelten Tag für Tag Wurzeln, Samen, wilde Nüsse und Beeren und Honigameisen, sie gruben Engerlinge aus und fingen Eidechsen und bereiteten daraus für die ganze Sippe eine sehr gute und schmackhafte Mahlzeit. Sie befanden sich mitten in einer endlosen, glühenden Wüste. Die Luft war so trocken wie der Sand, die wenigen Bäume reichten nur bis zur Hüfte, und doch hatte Coonawarra viele dicke, runde, sich windende Engerlinge auf einem Haarband aufgereiht. Wenn man sie röstete, dann schmeckten sie, wie Joanna fand, fast wie Haselnüsse. Winning-Arra hatte zwei dicke Goannas gefangen, während andere Frauen stolz Beutelratten, Schlangen und in Schlingen gefangene Vögel vorzeigten. Das alles versprach für den Abend ein richtiges Festmahl, mit dem appetitlichen Geruch des brutzelnden Fleischs in der Luft.
Joanna betrachtete fasziniert ihre neue ›Familie‹. Nur die alte Naliandrah war im Lager zurückgeblieben, denn sie hatte die Aufgabe, zu verhindern, daß die Kochfeuer ausgingen. Alle anderen Frauen der Sippe – von der ältesten Urgroßmutter bis zum jüngsten Säugling an der Brust seiner Mutter – waren auf Nahrungssuche. Mädchen vor der Pubertät mit schlaksigen Armen und Beinen gehörten ebenso dazu wie etwas ältere, die sich mit großer Anmut bewegten, aber auch junge Mütter und Frauen, deren faltige Körper nach einem Leben inmitten von Sand und Sonne zusammengesunken waren. Sie waren geschmückt mit Halsbändern und Gürteln aus Menschenhaar, Federn und Dingozähnen. Einige der Frauen hatten sich bemalt, als habe das Sammeln von Nahrung eine bestimmte religiöse Bedeutung.
Joanna sah den starken Zusammenhalt dieser Frauen. In der Sippe lebten viele Generationen
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