Traumzeit
dachte an Pauline und an ihre Reaktion auf seinen Kuß vor zwei Wochen. Er wußte, sie würde sich nicht zieren. Und dann überlegte er, wie wohl Joanna sich verhalten würde …
»Miss Drury«, sagte er, »was für eine angenehme Überraschung!« Er reichte ihr die Hand und half ihr vom Wagen. Dann sah er trotz ihres Lächelns die Besorgnis in ihren Augen. »Ist alles in Ordnung?« fragte er.
»Adam hat einen großen Schreck bekommen.«
»Ach?« Hugh sah Adam prüfend an, der wie gebannt die ungewöhnliche Szene im Fluß beobachtete. »Was ist denn geschehen?«
Joanna erzählte ihm von dem plötzlichen hysterischen Ausbruch. »Er hat sich mehr aufgeregt als damals am Kai. Und ich glaube, der Grund war Wachtmeister Johnson.«
»Wie ist das möglich? Adam hat Johnson doch schon öfter gesehen.«
»Ja, aber nicht in Uniform.« Sie holte aus der Rocktasche den Brief der südaustralischen Behörde, die sich um Adam gekümmert hatte. Joanna hatte den Brief auf der Fahrt zum Fluß gelesen. Die übrige Post hatte sie im Haus zurückgelassen. »Sie schreiben, ein Goldsucher habe Adam gefunden. Der Mann berichtete der Behörde, er habe gehofft, im Farmhaus ein Essen zu bekommen, und das weinende Kind gehört. Er entdeckte einen Jungen und eine tote Frau. Deshalb lief er in den nächsten Ort und holte einen Polizisten zu Hilfe. Als sie in das Haus zurückkehrten, fanden sie Adam und seine Mutter. Offenbar war sie schon eine ganze Weile tot.«
»Mein Gott«, sagte Hugh und sah wieder Adam an, der von der Wollwaschmaschine fasziniert zu sein schien.
»Er muß tagelang geweint haben«, fuhr Joanna fort, »und ich glaube, das ist auch der Grund für seine Sprachschwierigkeiten.«
»Und deshalb hat er auch Angst vor Johnson. Natürlich – sicher hat ihn ein Polizist in Uniform mitgenommen.« Hugh ging zum Wagen. »Wie ich höre, hast du heute morgen Angst gehabt, Adam. Aber mach dir keine Sorgen, niemand wird dich von uns wegholen. Du bist hier jetzt zu Hause. Wir sind doch Freunde, nicht wahr?«
Adam sah ihn schweigend an.
»Komm runter! Komm, sieh dir an, wie wir die Schafe waschen.« Hugh streckte die Hand aus, und Adam ergriff sie nach kurzem Zögern.
Sie gingen gemeinsam zum Flußufer, und während der Junge mit großen Augen die Maschine bestaunte, sagte Joanna zu Hugh: »Für Sie ist auch Post gekommen, Mr. Westbrook – ein Päckchen von der Buchhandlung in Cameron Town.«
»Ach ja«, erwiderte er, ohne die Schafe im Fluß aus den Augen zu lassen. »Sie können es aufmachen, Miss Drury. Der Inhalt ist eigentlich für Sie bestimmt.«
»Für mich?«
Als Hugh nicht antwortete, dachte Joanna an das Buch über die Geschichte der australischen Kolonien von 1788 bis 1860 , das sie im Rindenhaus gefunden hatte. Darin gab es eine Karte des australischen Kontinents – eine riesige Insel am unteren Rand der Erde. Die Städte und Siedlungen zogen sich an der Küste entlang. Aber das Landesinnere war auf der Karte nur eine große weiße Fläche. Man nannte sie den Busch. Es war das schweigende, geheimnisvolle Herz Australiens, ein unerforschtes Gebiet, in dem keine Flüsse verzeichnet waren, keine Berge, keine Orientierungspunkte. Und in dem Buch stand, es sei ein riesiges, unbekanntes Land, das noch kein Weißer gesehen hatte. Was mag es dort geben, hatte Joanna sich gefragt. Gibt es dort eine fremde Welt, unbekannte Rassen und Städte, von denen die Menschen an Australiens Küste nichts ahnen?
Als sie sich jetzt daran erinnerte, dachte sie plötzlich an das verschlossene Herz von Hugh Westbrook. Er schien Joanna wie jenes geheimnisvolle Land zu sein – unerforscht, rätselhaft, unberechenbar.
»Das ist eine neue Methode, die Wolle zu waschen«, erklärte Hugh nach einiger Zeit. »Früher haben wir die Vliese direkt nach der Schur an die Spinnereien in England geschickt. Dort hat man sie gewaschen. Aber wir haben herausgefunden, daß wir für unsere Wolle mehr Geld bekommen, wenn wir sie vor dem Versand waschen.«
»Mr. Lovell sagt, Sie sind mit dem Wollertrag in diesem Jahr nicht zufrieden, Mr. Westbrook.«
»Leider haben die Läuse meine besten Wollschafe heimgesucht. Wie Sie sehen, ist die Wolle spröde, die Fasern zerfallen im Wasser. Diese Vliese sind nach dem Scheren unbrauchbar. Fünftausend nutzlose Vliese und ein Jahresverdienst schwimmen mir buchstäblich davon.«
Joanna hatte in der kurzen Zeit auf Merinda bereits gelernt, daß das ganze Leben eines Schafzüchters – sein Geld, sein Ruf –
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