Traumzeit
Abkommen«, hatte er am ersten Abend auf der Fahrt im Lager am Emu Creek gesagt. Dieses Buch würde für sie deshalb immer einen ganz besonderen Wert haben, das wußte Joanna.
»Hören Sie«, sagte Bill Lovell plötzlich, »da singt doch jemand.«
Joanna hob den Kopf und hörte eine Mädchenstimme. Sie sang eine seltsame Melodie …
Dann entdeckte sie Sarah auf der anderen Seite des Hofs im Schatten der Scherhütte. Die Hütte war leer, und alles war still; auch in den Pferchen und über dem Hof hatte sich wieder Ruhe ausgebreitet. Das Scheren war beendet, der Trupp der Arbeiter war bereits weitergezogen. Die Hitze des Tages senkte sich auf eine verlassene, beinahe menschenleere Farm.
Sarah stand an derselben Stelle wie an jenem Morgen. Aber nun sang sie eine Melodie in hohen Tönen, mit Worten, die sie wiederholte und wiederholte, und die Joanna nicht verstand. Beim Singen hielt sie den Blick unverwandt auf Joanna gerichtet.
»Bill«, sagte Joanna beklommen, »wie ist Sarah auf die Farm gekommen?«
»Wir haben sie aufgenommen, weil Reverend Simms, der Leiter des Aborigines-Missionsdorfs, uns darum gebeten hat. Er sagte, sie sei in Gefahr, ihre Seele zu verlieren.«
»Wie das?«
»Na ja«, erwiderte Bill und blickte über den staubigen Hof zu dem Mädchen, »offenbar hat man einige der alten Frauen dabei ertappt, daß sie eine Initiation bei ihr durchführten. Simms hat das unterbunden und sie hierher gebracht. Zu den Aufgaben der Mission gehört es, den jungen Aborigines die Lebensweise der Weißen beizubringen und sie daran zu hindern, die Stammessitten zu lernen.«
»Was ist das für eine Initiation?«
»Ich weiß es eigentlich nicht. Es ist alles sehr geheim und tabu. Es geht darum, den Heranwachsenden die Gesetze der Sippe beizubringen, die Lebensweise ihrer Vorfahren, die Traumpfade, die Mythologie ihrer Rasse. Wenn ein Jugendlicher durch die Initiation in die Sippe aufgenommen ist, gilt der Junge oder das Mädchen sein ganzes Leben lang als ein Aborigine. Die Missionare mögen das nicht, denn dann sind die Aborigines nur schwer unter Kontrolle zu halten. Wenn die jungen Leute jedoch nicht die Initiation durchmachen, werden sie von der Sippe nicht aufgenommen. Dann wenden sie sich an die Weißen. Sie suchen Hilfe bei ihrer Kultur und hoffen, ihre Identität dort zu finden.«
»Aber das ist sehr grausam«, sagte Joanna.
»Die Missionare meinen es gut, Miss Drury. Ich glaube, sie handeln in guter Absicht und denken, sie ermöglichten den Aborigines ein besseres Leben. Aber leider haben manche Missionare vor den Aborigines auch Angst. Sie glauben, die Eingeborenen haben eine dunkle, böse Seite, die unterdrückt werden muß.«
Joanna blickte zu dem Mädchen hinüber. Sarah hatte lange, schlanke Glieder. Ihre Haut glänzte in der Sonne, und die dichten seidigen Haare erinnerten Joanna an einen Wasserfall. Sie sang eine schöne Melodie mit einem einprägsamen Refrain.
»Sind die Aborigines in dem Missionsdorf glücklich?« fragte Joanna und dachte an ihre Großeltern, die vor über vierzig Jahren als Missionare nach Australien gekommen waren.
»Das weiß ich nicht«, erwiderte er. »Bei den meisten Eingeborenen kann man nur schwer sagen, was sie denken. In gewisser Hinsicht haben die Weißen das Leben der Aborigines verbessert. Andererseits haben sie aber auch viel verloren. Da die Jugendlichen nicht mehr in der Stammesgemeinschaft aufwachsen, verlieren sie ihre kulturelle Identität. Sie werden von den Alten nicht mehr anerkannt, aber von den Weißen auch nicht.«
Joanna mußte an den alten Mann, an Ezekial, denken. Wie er Sarah wohl beurteilen mochte? Das Mädchen war halb Aborigine, nur zum Teil initiiert, und sie arbeitete auf der Schaffarm eines Weißen. Auch Ezekial arbeitete hin und wieder für Hugh, das wußte Joanna. Aber was hielt er in Wirklichkeit von den Weißen, der neuen Rasse, die sein Land erobert hatte?
»Was singt sie?« fragte Joanna.
»Ich vermute, sie erzählt eine Geschichte, Miss Drury. Die meisten Lieder der Aborigines erzählen eine Geschichte. Lieder sind für sie, was für Weiße Bücher sind. Ich verstehe einige der Worte, die sie singt.« Er schwieg und hörte zu. »Sie redet von Schafen – Schafe, die ihr Vlies verlieren …«
Joanna hörte wie gebannt dem Gesang zu, der die stille Luft des Nachmittags erfüllte.
»Bill«, sagte sie, ohne den Blick von Sarah zu wenden, »ich habe Dinge vor dem Rindenhaus gefunden, die ich nicht verstehe.« Joanna beschrieb sie
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