Traumzeit
am Rand standen Bleistiftnotizen. In einem Buch mit dem Titel
Schafzucht und Wollproduktion
entdeckte Joanna eine Reihe alter und vergilbter ausgeschnittener Zeitungs- und Zeitschriftenartikel mit Überschriften wie »Der Anbau von Luzerne« und »Die Anwendung wissenschaftlicher Methoden in der Wollproduktion«. Das Wörterbuch war ebenso abgegriffen wie der Weltatlas und ein Buch über die Geschichte der australischen Kolonien.
Joanna blätterte in den Büchern und erfuhr auf diese Weise etwas mehr über den Mann, dem Merinda gehörte.
»Ich habe keine Schule besucht«, hatte er ihr an jenem Abend im Lager am Emu Creek erzählt. »Wir blieben nie lange genug an einem Ort. Mein Vater und ich mußten immer auf der Wanderschaft sein, um Arbeit zu finden. Ein alter Einsiedler, der in der Nähe von Toowoomba in einem Wald lebte, brachte mir die ersten Buchstaben bei.«
Hughs bescheidene Büchersammlung erzählte Joanna die Geschichte vom Weg dieses jungen Mannes, sich selbst ein Maß an Bildung zu verschaffen. In
Jane Eyre
waren zum Beispiel auf jeder Seite Wörter unterstrichen, die er im Wörterbuch nachgeschlagen haben mußte. Auf der Innenseite des Umschlags standen zwei Datumsangaben: » 10 . Juli 1856 bis 30 . Juni 1857 .« Joanna vermutete, die Angaben bezogen sich darauf, wann er das Buch angefangen und wann er es zu Ende gelesen hatte. Hugh war damals fünfzehn gewesen und hatte demnach beinahe ein Jahr dazu gebraucht. Aber bei den
Weihnachtserzählungen
von Dickens hatte es nur von August 1860 bis zum Oktober desselben Jahres gedauert. Damals war er bereits neunzehn gewesen, und er hatte nur noch wenige Worte unterstrichen – ein deutlicher Beweis seiner Fortschritte. Die handschriftlichen Notizen in den Geschichtsbüchern, mit denen er sich ab 1858 beschäftigt hatte, enthielten noch viele falsch geschriebene Wörter, aber seine Anmerkungen im Handbuch für Schafzüchter vom September 1867 – also vor vier Jahren – waren beinahe fehlerfrei und sehr viel besser geschrieben.
An diesen Büchern glaubte Joanna sehr deutlich zu spüren, wie sich Hugh Westbrooks Leben vor ihr entfaltete. Sie sah den ungebildeten Jungen, der sich mit großer Ausdauer und Zähigkeit abmühte, Buchstaben richtig zu schreiben – viele ›B’s‹ waren offenbar ausradiert worden, denn man sah noch die Abdrücke der mißlungenen Versuche eines ›B‹ daneben oder darunter. Der wissensdurstige junge Mann hatte sich immer wieder mit dem Weltatlas beschäftigt – um eine Stadt auf der Karte von Queensland hatte er einen Kreis gezogen und einen Stern daneben gezeichnet. Weshalb mochte ihm dieser Ort wohl so wichtig sein, fragte sich Joanna. Schließlich konnte sie sich den selbstbewußten und zielstrebigen Mann vorstellen, der sich das Wissen der ›landwirtschaftlich gebildeten‹ Farmer im fernen England aneignete, das in bescheidenen Busch-Zeitungen veröffentlicht worden war.
Dann gab es noch die Gedichte, die er manchmal mit Bleistift, manchmal mit Tinte auf einzelne Blätter geschrieben hatte. Bei einigen waren Worte durchgestrichen, andere waren fehlerfrei und aus einem Guß, als seien sie ihm mühelos aus der Feder geflossen. Hugh hatte Balladen über die australischen Verbrecher geschrieben, die man hier ›Buschklepper‹ nannte, und auch über die Wollscherer fand sie Zeilen wie: »Sie arbeiten viel, und sie trinken viel, und schließlich schluckt sie die Hölle …« Und über den Busch schrieb er: »Knorrige alte Känguruhbäume seufzen im Tal/Über den mit Lilien übersäten Teichen/Am Ende der grünen Hügel.« Es gab auch eine Ballade über »Die Witwe des Scherers«. Joanna stellte dabei fest, es ging dabei nicht um eine Frau, deren Mann gestorben war. Ihr Mann »machte sich auf den Känguruh-Weg«, um Arbeit als Scherer zu finden. Er war ein halbes Jahr auf der Wanderschaft und kehrte ohne einen Penny nach Hause zurück.
»Es tut mir leid, daß Mr. Westbrook Schwierigkeiten hat«, sagte Joanna jetzt.
»In all den vielen Jahren, in denen ich Hugh kenne – und das sind nicht wenige –, habe ich ihn noch nie so niedergeschlagen erlebt.«
Als Bill gegangen war, zeigte Joanna dem kleinen Adam, wie man die Instrumente in der Arzttasche reinigte und an den richtigen Platz steckte. »Du mußt darauf achten, daß alles wieder an den richtigen Platz kommt«, sagte sie, »dann findest du es, wenn du es brauchst.«
Sie hoben die Köpfe, weil jemand in den Hof geritten kam. »Bring die Tasche wieder ins
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