Traumzeit
Känguruhs oben, sondern unten.«
Joanna lachte. »Das ist für ein Baumtier sicher sehr unbequem, könnte ich mir vorstellen! Wir werden ein Ställchen für ihn bauen«, sagte sie. »Ich gebe ihm etwas Wasser und …« Sie sah Bill fragend an. »Was fressen Koalabären eigentlich?«
»Sie trinken kein Wasser. Und sie fressen nur die Blätter einer bestimmten Eukalyptusart. Aber wir werden ihm schon etwas Futter finden.«
»Oh, Sie haben sich ja die Hand verletzt.«
»Ein Schaf wollte mich beißen«, erwiderte er. »Das ist doch nicht der Rede wert.«
»Ich werde die Wunde verbinden. Adam, geh bitte ins Haus und hol meine Verbandstasche. Ach, und bring mir auch eine Schüssel Wasser …«
»Bitte machen Sie keine Umstände, Miss«, wehrte Lovell ab, aber Joanna entfernte bereits das Taschentuch, das er um die Hand gewickelt hatte. »Das wird schon wieder gut. Stummel-Larson hat Kerosin auf die Wunde geträufelt.«
Joanna lachte. Am Tag ihrer Ankunft auf Merinda hatte sie eine Flasche Kerosin entdeckt. Auf dem Etikett stand: ›Alles damit einreiben.‹
»Diese Wunde muß etwas sorgfältiger behandelt werden, Mr. Lovell«, stellte sie fest.
»Bitte nennen Sie mich Bill.«
»Gerne, Bill. Übrigens, Sie müssen hier einer der wenigen Männer ohne Spitznamen sein!«
»Ja, das stimmt, in Australien sind Spitznamen sehr beliebt. Es kommt nur selten vor, daß jemand keinen hat.«
Adam brachte eine Schüssel Wasser und Joannas Arzttasche. Sie säuberte Lovells Hand zunächst vorsichtig mit Wasser und Seife. Dann trug sie auf die Bißwunde eine Salbe auf. Adam stand daneben und reichte ihr die notwendigen Dinge aus der Tasche.
Bill sah zu, wie Joanna den Verband geschickt anlegte. Dann blickte er auf ihren gesenkten Kopf, auf die glänzenden braunen Haare, die in der Sonne rötlich schimmerten. Ihm wurde plötzlich bewußt, daß er schon lange nicht mehr an eine Frau gedacht hatte – nicht mehr, seit Mildreds Tod. Aber diese junge Joanna, die Hugh hierher gebracht hatte, fing an, ihn zu beschäftigen. Und er war nicht der einzige, dem es so ging. Bill hätte schwören können, daß er auf Merinda morgens noch nie so viele gekämmte Männer mit frisch rasierten Gesichtern gesehen hatte wie in letzter Zeit. Dann war da auch noch der junge Arzt, David Ramsey, der plötzlich öfter erschien. Er war immer ›gerade in der Nähe‹ und kam nur vorbei, um sich davon zu überzeugen, ›daß hier alles in Ordnung ist‹. Bill konnte sich ausrechnen, welche Absichten der junge Mann in Hinblick auf Miss Drury hegte, und stellte zu seiner Überraschung fest, daß er eifersüchtig war. Ach du meine Güte, dachte er, was kann die junge Dame an einem alten Brummbär wie mir finden?
»Sie haben eine zarte und geschickte Hand, Miss Drury«, sagte er und betrachtete anerkennend den Verband.
»Ich wünschte nur, die anderen Männer würden sich auch von mir behandeln lassen. Ich habe versucht, einigen Verletzten zu helfen, aber sie sind einfach davongelaufen.«
»Die Männer möchten vor einer Frau nicht ihre Schwäche eingestehen.«
»Aber es ist doch albern, lieber zu verbluten und auf Doc Fuller oder Dr. Ramsey zu warten! Bitte denken Sie daran, die Wunde muß sauber bleiben, Mr. Lovell. Ein Tierbiß kann böse Folgen haben.« Sie gab Adam den Rest der Binde zurück und zeigte ihm, wie man sie richtig aufwickelte und verstaute. »Wie ist der Wollertrag, Bill?« fragte sie. »Ich habe Mr. Westbrook nicht gesehen, um ihn danach fragen zu können.«
»Leider nicht gut. Die Läuse sind schlecht für die Schafe. Ihre Wolle zerfällt dann leicht. Hugh ist im Augenblick beim Waschen unten am Fluß, und er sieht nicht gerade glücklich aus.«
Joanna blickte auf die Baumgruppe unten am Fluß und mußte an ein Gedicht denken:
Mitten im Strudel und Auf und Ab des Lebens
Kommt es nur auf zwei Dinge an:
Mitgefühl, wenn andere leiden,
Mut im eigenen Unglück.
Joanna hatte diese Zeilen in einem Buch entdeckt, das im Rindenhaus stand, auf der Innenseite des Umschlags. In ungelenker Handschrift hatte der Autor darunter geschrieben: »Hugh Westbrook, siebzehn Jahre alt.«
Joanna war am ersten Vormittag in seinem Haus auf Hughs Bücher gestoßen. Sie standen als eine kleine Sammlung in einem Holzregal. Es waren alte, oft gelesene Gedichtbände, Romane, Geschichtswerke und Bücher über Landwirtschaft. Zu den Romanautoren gehörten Trollope, Thackeray, Dickens und sogar die Brontës. Viele Worte waren unterstrichen, und
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