Traumzeit
den alten Steinen nachdenklich stehenblieb, blieb auch sie stehen.
Dann kniete er vor den heiligen Steinen nieder. Er streckte die Hand aus, um sie zu berühren. Sarah stieß einen Schrei aus.
2
Als Joanna auf das Bild der Regenbogenschlange blickte, lief ihr ein kalter Schauer über den Rücken. Die Schlange sah genau so aus, wie ihre Mutter sie im Tagebuch beschrieben hatte – es war die riesige Schlange, die sie in den Träumen verfolgte. Es verwirrte Joanna, ein so erschreckendes und groteskes Wesen anzusehen und dabei eine unbestimmte Vertrautheit zu empfinden. Das eine funkelnde Auge der Schlange schien sie spöttisch und herausfordernd anzublicken.
»Ich weiß, daß Sie sich für die Aborigines interessieren, Mrs. Westbrook«, sagte Mr. Talbot, der Besitzer der Buchhandlung. »Und wenn ich auf etwas stoße, das Ihnen gefallen könnte, dann lege ich es für Sie beiseite. Wissen Sie, das hier ist ein seltenes Buch, und ich glaube, es ist äußerst faszinierend.«
Joanna las den Titel:
Mein Leben bei den Aborigines
von Sir Finlay Cobb. Es war 1827 geschrieben worden – also vierzig Jahre nachdem die ersten Weißen in Australien an Land gegangen waren, und nur drei Jahre bevor Joannas Großeltern in Australien landeten. »Ja, Mr: Talbot«, sagte Joanna und betrachtete das beängstigende Bild der Regenbogenschlange, »es scheint wirklich sehr interessant zu sein.«
Sie konnte den Blick nicht von dem unheimlichen Schlangenauge wenden. Plötzlich fiel ihr wieder ein, daß das Auge einer Schlange in den Träumen ihrer Mutter eine große Rolle gespielt hatte – nicht nur in den Alpträumen, sondern erstaunlicherweise auch in den Erinnerungs-Träumen. ›Ich sehe, wie meine Mutter aus einer Höhle tritt‹, hatte Lady Emily geschrieben. ›Ihr folgt eine riesige Schlange. Sie hat nur ein Auge. Und dieses eine Auge macht mir Angst. Seltsamerweise hat die Frau, die mich auf den Armen hält, keine Angst. Auch die anderen dunkelhäutigen Menschen um mich herum scheinen froh und glücklich zu sein.‹
»Mrs. Westbrook?« fragte Mr. Talbot. »Möchten Sie das Buch kaufen?«
»Ja«, sagte sie, gab ihm das Buch und griff nach der Geldbörse. Dabei legte sie die andere Hand auf ihren Leib und dachte an das neue Leben darin. Sie würde ein Kind bekommen. Ihre Freude war unermeßlich, aber die Furcht vor dem Erbe ihrer Mutter lag wie ein bedrohlicher Schatten auf ihr.
Eineinhalb Jahre waren vergangen, seit die
Estella
in eine Flaute geriet, und Joanna schließlich den Hafen von Melbourne erreicht hatte. Joanna und Hugh waren seit einem Jahr verheiratet, und Merinda entwickelte sich gut. Joanna war noch immer entschlossen, dem Geheimnis der Vergangenheit ihrer Familie auf die Spur zu kommen und das Stück Land zu finden, das ihre Großeltern gekauft hatten. Aber bisher hatte sie nur wenig in Erfahrung bringen können. Leser antworteten zwar auf die Berichte, die Frank Downs in der
Times
mit der Bitte um Auskünfte veröffentlichte, aber es stellte sich jedesmal heraus, daß etwas nicht stimmte – die Zeitangaben, die Beschreibung der Großeltern; es trafen unglaubwürdige Informationen ein, und manche Leute wollten ihr Wissen sogar verkaufen. Die Gesellschaft für Stenographie in London hatte nicht geantwortet. Deshalb bezweifelte Joanna, daß von dieser Seite mit Hilfe zu rechnen sei. Auch ein Besuch bei Farrell and Sons, den Kartographen in Melbourne, hatte keine neuen Erkenntnisse über die in der Urkunde erwähnten Orte erbracht. Die Grundbuchämter der Kolonialbehörden hatten Joannas Anfragen alle in der gleichen Weise beantwortet: Sie brauchten genauere Angaben.
Aber Joanna wußte sehr genau, sie durfte nicht aufgeben – besonders jetzt nicht, da sie ein Kind erwartete.
Vielleicht werden meine Bemühungen am Ende doch belohnt werden, dachte sie und trieb das Pferd zur Eile an, denn sie wollte nach Hause zurück und zu Hugh. Das gekaufte Buch lag zusammen mit der Post – darunter ein Brief von Patrick Lathrop aus San Francisco – in ihrem Einkaufskorb. Joanna hätte das Pferd am liebsten galoppieren lassen, denn sie wollte Hugh mit der guten Nachricht überraschen. Es schmerzte sie beinahe körperlich, von ihm getrennt zu sein, denn in seiner Nähe fühlte sie ein so tiefes Gefühl der Verbundenheit. Sie wollte ihm auch den Brief von Lathrop zeigen und das Versprechen, das er barg: Vielleicht war ihre Suche zu Ende. ›Ich glaube, Sie kannten meinen Großvater‹, hatte Joanna in den Briefen
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