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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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zu entgehen, hatte er mir besser gefallen.
    Vielleicht ließ sich seiner Geschichte etwas Nützliches entpressen, dachte ich und fragte, wie es ihm früher ergangen sei mit seiner Lärm-Phobie, ich kenne den technischen Ausdruck nicht.
    Was hier Phobie heiße?, schrie L., er habe von jeher allergisch auf Lärm aller Art reagiert, in der Form von Wutanfällen. Deshalb sei er auch Pathologe geworden.
    Sieh mal einer an, dachte ich voller Achtung, das ist ja auch eine Möglichkeit. Richtige Wutanfälle, warum nicht. Wie denn die Formen so beschaffen sein müssten und ob er leiser sprechen könne. Das tat er dann. Es war schon eine Leidensgeschichte vor dem Schaden an den Trommelfellen; er hatte umziehen müssen und stritt sich mit nächtlichen Waschmaschinen, ignoranten Mitmietern, schreienden Kindern, auf die er mit Urin gefüllte Plastiksäcke warf. Er führte dauernd Prozesse, na, und zum Schluss war die Geschichte seines Kampfes gegen die Zumutung doch ein bisschen eintönig.
    Bist du verheiratet?, fragte ich nach einem großen Schluck aus meinem Flachmann. Das Geschrei griff mich an.
    Aber ja, bellte Lobowitz, auch sie ist stocktaub, und wir verstehen uns prächtig; der menschliche Blick sagt mehr als tausend Worte, und im Bett fallen alle lästigen Körpergeräusche einfach weg, kurz, ganz idyllische Stille allüberall und immer.
    Mochte Lobowitz in Frieden leben.
    Ich beschloss, Hohensee die Geschichte anzuvertrauen für seine Arbeit Über die Gewalt in der Gesellschaft und wie sie einmal positive Folgen zeitigt, was ja selten ist.
    Fuhr mit dem Taxi wieder nach Hause in mein gepolstertes Refugium, sehr sicher in der Blechzelle durch besetzte öffentliche Räume. In des Abends Stille mixte ich mir einen innovativen Cocktail auf Rum-Basis und spürte mit unverzerrten Sinnen wieder einmal einen veritablen Ekel-Herpes reifen, den zweiten dieser Woche. Kaum verschwand einer, tauchte ein anderer auf, als wollten sie mich, genährt von einer Quelle, nicht allein lassen. Immerhin eine tröstliche Konstante in ihrer Verlässlichkeit.
    10. Februar
    Tag der heiligen Scholastika, vielleicht ein gutes Omen. Muss die Alkoholrationen ein bisschen herabsetzen oder zu Wodka übergehen. Rum ist schädlich fürs Gedächtnis. Habe tatsächlich den wichtigsten Fall eines ‹Reaktionsschemas› vergessen, den lieben, alten Pohl, einen sanften Mann, der Tiergeschichten schrieb, wenn er nicht gerade an seinem Syndrom doktern ließ.
    Wie konnte ich nur P. vergessen, der von uns allen, mochten es Atopiker, Phobiker oder Zwangsneurotiker sein, eine angemessenere Reaktion an den Tag legte? Missfiel ihm etwas – und ihm missfiel beinahe alles auf der Welt –, empfand er den zartesten Anflug einer Zumutung, ein winziges, kaum lokalisierbares Unbehagen an Subjekt oder Objekt etc., dann, Gott, so war’s damals, musste er sich übergeben; er kotzte einfach, man kann auch sagen, P. ergoss sich ein bisschen, zuerst heimlich in ein Taschentuch, später kühner mit Geräusch und offensiv.
    Normalerweise ist so ein Vomitus, wie ich eruierte, ein Reflex, aber man muss etwas im Magen haben. Pohl zeigte auch mit leerem Magen, dass die Reflexe funktionierten. Sein Arzt sagte, er leide unter einem Vomitus hystericus. Den Ausdruck ‹leiden› lehnte er schon damals ab. Wenn man so reagiere wie er, dann leide nicht er als Individuum, sondern die Umgebung.
    Seine prompten Ekel-Erwiderungen waren unausdenkbar delikat; er vomitierte blitzschnell – dann, wenn er den Schatten einer Coca-Büchse auf einer Plastiktischdecke sehen musste, aber niemals beim Anblick des Schattens einer Orange auf Damast, und dieses Beispiel umfasst nur die Sphäre des Ästhetischen. Worauf er sonst mit der bekannten Ausbeute mühelos und flüssig reagierte, könnte man nur in der Form eines Stich- und Schlagwortkataloges erfassen, kurz, er war eine Naturbegabung. Unsere schwächlichen Reaktionen und Gegenreaktionen waren dagegen der reine Scheißdreck. Dieses machtvolle Beispiel muss in meine Sammlung, koste es, was es wolle. Freilich, ich müsste mich präparieren und einen besonderen Cocktail mischen, der meine Sprech- und Reaktionsfähigkeit nicht sabotierte.
    Man sollte vielleicht vorher den Depressiven besuchen, den Kunsthistoriker Lars Ölund, der sich von der herrschenden Welt nur durch Spaziergänge in den Bildern Edgar Degas’ erholte; nur er könnte mir sagen, ob eine Depression die larvierte Form einer General-Allergie ist oder ob eine General-Allergie die

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