Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)
gewisse Abstumpfung gegen die Betäubung durch die Cocktails.
14. Februar
Im Revier ist ein neuer Arzt aufgetaucht und hat eine Praxis aufgemacht; er heißt Finriß und ist Heilpraktiker. Im Augenblick sind meine Reaktionen auf Objekte, Subjekte und die ganze Umgebung so herabgesetzt, dass ich ihn konsultieren könnte.
15. Februar
Was für ein Diagnostiker, Denker und Mensch, dieser Finriß. Er ist Allergiker, Phobiker und praktizierender Alkoholiker, aber mit Wodka, nicht mit Cocktails. Er hat einen schweren Tremor, aber beim Sprechen zittert er nur wenig. Seine Sätze stehen wie eine Eins. Ich sei, sagte er, nachdem ich ihm die paar Standpunkte der Leiden genannt hatte, kein souveränes Subjekt mehr, sondern nur ein Substitut; bei diesem Wort, was immer er damit meinte, versprach er sich zweimal.
Man müsse, sagte er, erst einmal Ordnung schaffen. Worauf ich denn, ganz allgemein und dann wieder speziell, allergisch, phobisch, animos oder antipathisch reagiere.
Auf, sagte ich, so gut wie alles.
Ob ich Alkoholprobleme hätte?, fragte er.
Nicht mit meinen Cocktails, sagte ich, weil ich bei den Mischungen sehr streng und quasi wissenschaftlich vorginge.
Dann stellte er seine letzte Frage mit einem tiefen Ernst – auf die er, noch bevor ich antworten konnte, einen Schluck Wodka aus einem Reagenzglas nahm –, ob ich mich leicht ekelte?
Leicht, sagte ich, leicht sei gar kein Ausdruck, ohne die Cocktails im Leibe hätte ich schon angesichts dieser Frage, ob ich mich leicht ekelte, sofort einen Herpes gekriegt vor lauter Ekel.
Aha, sagte Dr. Finriß und fragte, welche Shaker man benutzen solle, um derart wirkungsvolle Getränke zu creieren.
Ich benutze seit dem dritten Manhattan immer einen Shaker aus Titan. Wir tranken schweigend. Es war eine friedliche Minute, totenstill, draußen trieben ein paar Schneeflocken.
Man solle, sagte Finriß, über Allergien und die allergische Reaktion schlechthin ganz anders nachdenken; zuerst sei da die Welt, auf die man reagieren müsse, dann Subjekte, Situationen und Handlungen; und das alles sei auf eine ganz furchtbare Weise miteinander vermengt und verknüpft. Die meisten Individuen litten unter ihren Funktionsstörungen, dabei sei gerade ein Ausfall der Funktionstüchtigkeit ein Zeichen geistiger Gesundheit, also mithin eine erzgesunde Reaktion auf das Getriebe.
Ach, es war eine Sternstunde mit diesem Doktor, der mit dem Feuer des Wodkas sprach.
Und dann die Ängste, sagte Finriß, wer in dieser Welt angstlos lebe, sei ein Volltrottel, ein sensorisch und cerebral amputierter Idiot. Eine Strategie gebe es für schwache Gemüter, die sich allzu leicht ekelten – eine Ekelkur, methodus per nauseam –, während dieser langwierigen Kur müsse man diverse Ekel künstlich hervorrufen, um den Generalekel zu beseitigen.
Das sei nicht meine Absicht, sagte ich, denn ich will mich ja ekeln, was bliebe einem denn, wenn man sich nicht mehr von Herzen ekeln könne.
Da wurde er plötzlich unruhig und sagte, er habe keine Zeit mehr, weil er eine Patientin erwarte … Mit der Cocktail-Therapie solle ich ruhig fortfahren, aber es wäre nicht unklug, sich ein Haustier anzuschaffen, einen kastrierten Kater vielleicht oder einen alten Ara mit einem reichen Wortschatz.
16. Februar
Gehe kaum noch außer Haus. Habe mir einen Graupapagei gekauft, ein Weibchen, das nur einen Satz sagt, einmal morgens und einmal abends: Hoch die Tassen!
Beobachte aus der Ferne meine Lieblings-Allergiker, die Phobiker und ihre Neurosen. Finriß sagte, das spontane Vomitieren meines Freundes Pohl bei geringstem Anlass, beim unscheinbarsten Reiz, sei eine sog. Zwangshandlung. Glaube ich nicht. Habe P. auf der Straße, in einem Museum und einmal, mit 23 dl Daiquiri im Kanal, auf einer Vernissage beobachtet. Mein Gott, was für ein stolzes Bild, wenn er da schreitet, den Kopf im Nacken, das Taschentuch aus Seide an den Lippen, hin und wieder mit einem Würgereflex wollüstig kämpfend, die große Masse hinter sich lassend; es ist ein nahezu erhabener Anblick, mit welcher Würde und Delikatesse er seinem unstillbaren Ekel nachgibt. Mögen uns die höheren Instanzen einmal im Leben die wahren und wirklichen allergischen Reize schenken, aber ich weiß schon, nichts fällt einem in den Schoß, man muss sie, wie alles, erwerben, dazu sind wir auf der Welt.
22 Der Chronist leidet unter einem Generaldefekt – zu gutmütig, zu freundlich bis zur Selbstaufgabe und höflich bis zur Blödheit; mit diesen
Weitere Kostenlose Bücher