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Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Traurige Therapeuten: Roman (German Edition)

Titel: Traurige Therapeuten: Roman (German Edition) Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Ingomar von Kieseritzky
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Defiziten laviert man sich durchs Leben.
    Passow legte die Blätter auf den Messingtisch, fraß aus einem Blechröhrchen eine Handvoll Tabletten und sagte: Ich bin erschüttert, lieber Freund. Aber ehe ich meiner Erschütterung korrekten und kritischen Ausdruck verleihe, lass mich dir ein Geständnis machen.
    Ich war fast eingeschlafen.
    Mein Text sei eine Art Beichte, und auch er wolle beichten.
    Mochte Passow beichten; meine Neugier war auf dem Nullpunkt.
    Höre, sagte er bewegt, ich hatte vor zwei Jahren auf dem verlassenen Kinderspielplatz vor der Halenseebrücke links im Suff ein Gotteserlebnis.
    Du lieber Himmel, sagte ich einigermaßen überrascht.
    Es war beim Pissen, sagte Passow, da platzte im Schädel einer der vielen Neurotransmitter in der linken Hemisphäre, und eine innere, beschwingte männliche Stimme sagte deutlich: Aufgemerkt, Eugen Passow, wenn du an mich glaubest, so verspreche ich dir zu Lebzeiten weder Krebs, Schlaganfall, MS, ALS, Diabetes und Hirnschwund, Gicht und Hämorrhoiden. Und ein graues Pelztier erschien auf der Plattform eines kleinen Karussells da auf dem Kinderspielplatz am Halensee, und während ich Hosen und Schuhe bepinkelte, sagte ich laut einen Partikel aus uralter Lektüre: «Oh, ein sibirisches Eichkätzchen, mit Recht nennt man es die Zierde der russischen Wälder …» Mit Tieren habe ich nichts am Hut, man mag daran den Grad meiner mentalen Konfusion ermessen; es war übrigens eine Ratte.
    Soso, sagte ich gleichgültig. Eine andere Erwiderung ist nicht verzeichnet.
    Irgendwelche anderen Heilsversprechen?, fragte ich.
    Nicht direkt und irgendwie doch schon, sagte Passow, nur noch ein Schluss-Satz wurde hörbar – Kalorienrestriktion durch Fasten und Glauben würden mich unbeirrbar auf den rechten Weg führen; und ich solle mir für die Fastenperiode einen Zungenschaber anschaffen.
    Ich hätte ihn schon rausschmeißen müssen, als ich sah, dass er sich Notizen über meinen alten Text machte; der Besuch lief aus dem Ruder, dabei Kontrollverlust durch Wein, der mich phlegmatisch macht. Ich goss Passow eine anständige Menge vom Château in das Zahnputzglas und hoffte auf eine Kontraindikation wegen der Tabletten, aber der Besuch sprach unaufhörlich weiter …
    Ab dato (ich gebe die Restgeschichte in gnädiger Kurzform wieder) änderte der gute Eugen sein Leben, absolvierte während eines Fernlehrkurses für Laienprediger an einer evangelischen Akademie eine Fastenkur, verliebte sich in der zweiten Woche, als schon das Glückshormon Serotonin im Gehirn schäumte, in eine junge Deutsch-Russin namens Olga und begann seine Karriere als Laienprediger mit Zertifikat auf einem Tierfriedhof in Reinickendorf.
    Leider habe ich ein extrem wählerisches, eigensinniges Gedächtnis, das in seiner chronikalen Einfalt nur Episoden und nackte Fakten ohne verlässlichen temporalen Hintergrund registriert und – leider – bei den meisten autobiographischen Ereignissen, zufällig oder nicht, schmähliche Niederlagen oder fatale Fehler speichert; mein dunkles Sternzeichen ist Der Lapsus; mit Vorliebe merkt sich der Engramm-Speicher absolut überflüssiges Zeug, wie die Namen schon lange toter Freunde und ihrer vergeblichen Lebens-Mühen und Misserfolge, ich weiß also nicht, ob ich die Karrieren von Passow vollständig aufgezeichnet habe. Irgendwann stand er auf, ich schöpfte schon Hoffnung, und ging auf die Toilette.
    Achte, sagte ich, gefälligst auf meine Kakerlaken.
    Nach allzu kurzer Zeit rematerialisierte er sich und fläzte sich wieder in den Ohrensessel meines Großvaters Edward, als wolle er sich für die Nacht einquartieren.

 
    23 Meiner Aversion gegen den alten Freund, Laienprediger und zu allem Überfluss auch verlobt, wuchsen Flügel. Sein bleiernes Sitzfleisch war nicht von dieser Welt. Andere Gäste, vor allem weibliche, hatte ich erfolgreich mit Hausstaub, Milben, Spinnennetzen, Fledermauskot, Fliegendreck, Katzenhaaren, Mäusekacke, Rattenexkrementen und nicht zuletzt mit Federn aus der Mauser-Periode des tapferen Aras Wright abgewehrt und vertrieben. Wer einmal zu Besuch bei mir war, kehrte niemals zurück. So war die Lage, und sie war vorzüglich eingerichtet.
    Passow schien gegen alles resistent zu sein, sogar gegen Pipi-Chat und Yoricks immerhin kräftige Marke, die immer noch im Katzenklo stank.

 
    24 Die Welt, sagte ich nach einer langen Pause, werde mir seit 20 Jahren sukzessive immer fremder; in dieser meiner Klause wolle ich der letzten Heimstatt – der Kiste

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