Traveler - das Finale
wirbelten durch die Luft wie Vögel, die einem Sturm zu entkommen versuchen. Das Grollen verwandelte sich in das tiefe, widerhallende Donnern eines Zuges, der aus einem Tunnel ausfährt. Der Wasserpegel stieg Gabriel bis an die Taille, als er den Kopf hob und an der gegenüberliegenden
Wand einen dunklen Strich erkannte. Vorsichtig setzte er einen Fuß vor den anderen, durchquerte die Schlucht und legte seine Hände an den Fels. Durch die Wand zog sich ein waagerechter, mehrere Zentimeter tiefer Riss. Gabriel streckte den rechten Arm vor, zwängte seine Hand in den Felsspalt, schob die linke hinterher und verlor im selben Augenblick den Bodenkontakt. Ein paar Meter oberhalb wuchs einer der immergrünen Büsche aus der Felswand, und Gabriel beschloss, darauf zuzuklettern. Schon schmerzten seine Arme und Schultern, und aus seinen aufgescheuerten Fingerknöcheln lief Blut über seine Handgelenke.
Das Brüllen wurde immer lauter und mächtiger, bis es die ganze Schlucht ausfüllte. Kletter weiter, ermahnte Gabriel sich. Immer in Bewegung bleiben . Aber als er den Kopf nach rechts drehte, sah er eine riesige Wasserwand auf sich zukommen. Er reckte sich mit letzter Verzweiflung hinauf und packte das Gestrüpp. Und dann kam die Welle. Seine Brust, sein Hals und schließlich auch sein Kopf verschwanden unter Wasser. Er hörte ein Stöhnen und Knirschen. Es fühlte sich an, als hätte die dunkle Flut Monster angespült, die nun an seinen Beinen hingen und ihn von der Wand loszuzerren versuchten.
ACHTUNDZWANZIG
G abriel erwartete jenen letzten Augenblick, wenn er gezwungen wäre, Wasser einzuatmen. Wie lange würde er noch leben? Sein Herz schlug ein Mal, zwei Mal – und dann war die riesige Woge über ihn hinweggeschwappt und setzte ihren Weg durch die Schlucht fort. Als Gabriel die Augen öffnete und nach Luft schnappte, hing er immer noch an dem Busch.
Der Bach sah wieder ganz harmlos aus und ergoss sich als dünnes Rinnsal über die glatten Steine. Gabriel ließ sich auf eine von Kies bedeckte Stelle fallen und blieb dort für längere Zeit auf dem Rücken liegen, den Blick immer in den türkisblauen Himmel gerichtet. Sein erster Gedanke war, aus der Schlucht herauszuklettern und noch vor Einbruch der Nacht zum Einstiegspunkt zu laufen, um in seine eigene, vertraute Welt zurückzukehren.
Und dann? Irgendwann würde er die Geheimwohnung verlassen und mit dem Widerstand sprechen müssen. Obwohl er die Bruderschaft und ihr Streben nach Macht und Kontrolle ablehnte, wusste er nicht, wie er seinen Gegenentwurf so formulieren konnte, dass andere ihn verstanden. Vielleicht gab es eine höhere Macht, die ihm helfen würde. Er musste hierbleiben und das Geheimnis dieser Sphäre ergründen.
Gabriel stand auf, trat ins Flussbett und watete weiter. An jeder neuen Biegung blieb er stehen, um auf eine weitere Flutwelle zu lauschen. Eine Weile später erreichte er eine Stelle, an der die Felswand teilweise eingestürzt und ins Flussbett gefallen war. Er kletterte auf den Geröllhaufen und von dort
auf einen schmalen Felsvorsprung. Er stand mit dem Rücken zur Wand, hatte die Knie gebeugt und die Zehenspitzen nach außen gebogen wie ein Balletttänzer bei einem besonders ungelenken Plié. Aber während er sich seitwärtsschob, wurde der Vorsprung breiter und wand sich an der Felswand hoch, bis Gabriel die Schlucht wenige Minuten später verlassen konnte. Er wandte sich der Bergkette zu, und plötzlich entdeckte er Türme, die sich vom Himmel abhoben. Er sah eine Stadt, eine goldene Stadt, die sich aus der Mitte der Trostlosigkeit erhob.
Träge und mit schweren Gliedern schleppte Gabriel sich einen steilen Pfad hinauf, der um riesige Findlinge herumführte. Es sah aus, als seien die Berge explodiert und der Schutt überall verstreut worden. Gabriel schaffte hundert Schritte und blieb dann stehen, um in der dünnen Luft zu Atem zu kommen, bevor er seinen Weg fortsetzte. An einer Stelle musste er sich durch eine Lücke zwischen zwei Steinen zwängen. Als er hindurch war, sah er, dass ihn nur noch wenige Kilometer von seinem Ziel trennten.
Die Stadt bestand aus drei mächtigen Gebäudekomplexen, die auf übereinanderliegenden Terrassen errichtet waren. Jedes Gebäude hatte einen rechteckigen Grundriss, war so weiß wie ein Stück Würfelzucker und in dreiunddreißig Stockwerke unterteilt. Von den Dächern ragten unzählige goldene Turmspitzen in den Himmel. Einige waren in schlichter Zylinderform gehalten, andere bildeten Dome,
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