Traveler - das Finale
traurig, glücklich und trotzig, und dann erreichte das Taxi die Whitechapel Road.
Wäre Mother Blessing in ihrer Lage gewesen, hätte sie noch am selben Nachmittag einen Abbruch vornehmen lassen. Sie hätte sich diesen Unfall, der in ihr keimte, aus dem Leib reißen lassen und ihn zerstört wie einen Tumor. Die Stärke der Harlequins lag in ihrem einfachen Leben, an der unbedingten Konzentration auf die eine Pflicht. Der Körper war nichts als eine Waffe, die in Schuss gehalten werden wollte.
Inzwischen hatte Maya sich verspätet und würde den Zug nicht pünktlich erreichen. Dennoch hielt sie sich an den Ratschlag ihres Vaters. Orte wie der Bahnhof Euston hatte Thorn stets als »Argusfallen« betrachtet – ein engmaschig überwachtes Areal, benannt nach dem hundertäugigen Wächter aus der griechischen Mythologie. Euston war besonders gefährlich, denn es lag am Nordrand der Londoner Staugebührzone und wurde rund um die Uhr von Kameras beobachtet, die Nummernschilder abfilmten. Das University College und das Skelett von Jeremy Bentham befanden sich nur wenige Hundert Meter vom Bahnhof entfernt. Könnte der tote Philosoph seinen Glaskasten verlassen und auf der Straße spazieren gehen, würde auch er zum Insassen des virtuellen Panopticons.
Maya stieg aus dem Taxi, schlenderte durch die Euston Street und betrat das Gemeindezentrum der Quäker. Sie stellte sich in den Lesesaal im Erdgeschoss des Gebäudes, um sich einen ersten Überblick über die Gefahrenlage am Bahnhof zu verschaffen. Über dem Haupteingang hing ein Dutzend Überwachungskameras, die auf den Busbahnhof und das Ehrenmal für die »ruhmreich Gefallenen« gerichtet waren.
In einem Notfall hätte sie den Spießrutenlauf auf sich genommen und einfach gehofft, die Söldner der Tabula stünden im Stau. Aber normalerweise gab es immer einen sicheren Weg hinein – schließlich war auch Argus überlistet worden.
Maya verließ das Gemeindezentrum und eilte durch die Barnaby Street, die den Bahnhof nach Osten hin begrenzte. Der von Müll übersäte Gehsteig führte am King Arthur’s Pub, einem Wettsalon und einem Laden namens Transformation vorbei, der gebrauchte Kleidung für Crossdresser anbot. Im Fenster standen zwei identische männliche Schaufensterpuppen, von denen eine einen Anzug und eine Melone, die andere ein rotes Cocktailkleid und eine blonde Perücke trug. DAS KÖNNTEST DU SEIN, verkündete ein Schild. Nie im Leben , dachte Maya. Das Bild eines anderen Schaufensters durchzuckte sie: Eine junge Schwangere stand neben ihrer grimmig dreinschauenden, flachbäuchigen Zwillingsschwester.
Die Barnaby Street mündete in eine Rampe, die Maya hinauflief, um zum abgeschlossenen Lieferantenbereich auf dem Bahnhofsgebäude zu gelangen. Hier hingen nur wenige Kameras, die ausnahmslos auf die Nummernschilder der parkenden Autos gerichtet waren. Maya lief die Betonrampe auf der gegenüberliegenden Seite wieder hinunter und fand sich in der Bahnhofshalle wieder, in der sich ein Geschäft an das nächste reihte, darunter zwei Burger Kings, zwei W.-H.-Smith-Buchläden und zwei Filialen von Marks and Spencer. Vielleicht sah so die Zukunft aus – Hunderte von Läden, die im Grunde genommen alle gleich waren.
Die Ankunftstafel verriet, dass der Zug aus dem Fährhafen von Holyhead vor sechs Minuten auf Gleis sechs eingetroffen war. Maya durchquerte auf ihrem Weg zu den Gleisen sieben und acht zwei Geschäfte und spähte dann durch die dicke Glasscheibe auf Bahnsteig sechs hinunter. Die Passagiere aus Holyhead eilten auf die Bahnhofshalle zu: eine asiatische Familie mit Kinderwagen, drei Teenager mit geflochtenen Zöpfen und Rucksäcken, ein Paar mittleren Alters, das einen riesigen Rollkoffer hinter sich herzog.
Offenbar hatte Alice Chen nicht im Zug gesessen. Als Maya den Standort gewechselt hatte, bemerkte sie einen Polizisten, der gefolgt von zwei Sanitätern mit Trage die Bahnhofshalle durchquerte. Hier entlang , zeigte der Polizist . Gleis sechs. Bitte folgen Sie mir.
Maya überprüfte ihre Messer und rückte den Köcher so zurecht, dass sie das Schwert mit einem Griff ziehen konnte. Sie tat so, als halte sie nach jemandem Ausschau, während sie zum Bahnsteig sechs schlenderte. Der Polizist war schon da und stand vor der Tür zum vierten Wagon. Als Maya am Wagon entlangging, sah sie, dass sich im dritten Abteil die Sanitäter und zwei Schaffner drängelten.
Maya hatte das Ende des Bahnsteigs erreicht, als die Sanitäter die Trage, auf die eine
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