Traveler - das Finale
Klarissin geschnallt war, aus dem Zug trugen. Die Nonne war nicht bei Bewusstsein, aber sie lebte. Aber wo war Alice Chen? Maya wartete darauf, dass das Mädchen in Begleitung eines Erwachsenen aus dem Zug käme, aber nur der Polizist und die beiden Schaffner folgten der Trage in die Bahnhofshalle. Ganz offensichtlich vermisste niemand das Kind.
Maya zog ein Handy heraus, das auf einen Obdachlosen in Brixton zugelassen war, und rief Linden an. »Ich bin am Bahnhof«, sagte sie. »Ich sollte das Paket abholen, aber anscheinend hat die Lage sich geändert.«
»Gibt es ein Problem?«
»Der Paketbote ist bewusstlos und wurde von Sanitätern abgeholt.«
»Und das Paket?«
»War nicht im Zug.«
»Wie stellt sich die Situation dar?«
»Die Konkurrenz ist nirgends zu sehen.«
»Du darfst kein Risiko eingehen. Wir sind in diesem Fall zu nichts verpflichtet.«
»Das weiß ich, aber …«
»Verlass den Bereich umgehend und komm ins Büro.«
Linden legte auf, aber Maya blieb auf dem Bahnsteig stehen. Wir sind in diesem Fall zu nichts verpflichtet. Ja, ihr Vater hätte dasselbe gesagt – und noch vor einem Jahr hätte sie den Befehl befolgt. Aber Gabriel hatte ihr gezeigt, dass man auf vielerlei Weise Verantwortung übernehmen konnte. In diesem Moment hatte Maya den Eindruck, als verhalte Linden sich nicht anders als die Bruderschaft. Er verlangte von ihr, alles in den Dienst der Sache zu stellen und das Individuum zu vernachlässigen, Befehlen zu gehorchen und ihr eigenes Herz zu verraten.
Ihr Handy klingelte, aber sie ignorierte es. Sie ließ das Stilett in ihre linke Hand gleiten, bestieg den Zug und lief bis zum vierten Wagon durch. Das dritte Abteil war leer und wies keinerlei Anzeichen eines Kampfes auf, aber dann fiel Mayas Blick auf den abgetretenen Boden.
Sie kniete nieder und hob zwei vom Meer geglättete Treibholzsplitter auf. Kein Ermittler der Welt hätte das Zeichen deuten können, aber Maya wusste sofort Bescheid. Auch sie hatte als Kind mit solchen Waffen gespielt – mit Zollstöcken, die zu Schwertern wurden, und mit Bleistiften, die sie mit Gummibändern befestigt unter dem Ärmel trug. Hielt sie die Holzstücke aneinander, sahen sie wie ein Dolch aus.
SIEBENUNDZWANZIG
G abriel war immer in die vertraute Vierte Sphäre zurückgekehrt, um vor einer neuen Reise Mut zu sammeln. Aber diesmal unterbrach er seine Wanderung nicht. Nachdem er Michael begegnet war, lief er zum Strand zurück und begab sich abermals in den dunklen Stollen, der ihn ans Licht führte.
Nun saß der Traveler auf einem flachen Felsen und studierte seine neue Umgebung. Er war in ein ausgedörrtes Hochland hinübergewechselt, das hier und dort von niedrigen Sträuchern bewachsen war, deren schwarze Wurzeln aus dem Boden ragten wie Spinnenbeine. Am Horizont ringsum erhoben sich mächtige Berge mit schneebedeckten Gipfeln. Es war, als versammele sich das ganze Universum in diesem Talkessel.
Aber das Erstaunlichste an dieser Sphäre war der Himmel, dessen Türkisblau Gabriel an antiken Schmuck erinnerte. Vielleicht verursachte die Höhenlage die besondere Farbe. Gabriel atmete flach und spürte ein Brennen in der Lunge. Hier war alles rau und von einer strengen Reinheit, die keine Trübungen zuließ.
Gabriel kam zu der Erkenntnis, er müsse sich in der Sechsten Sphäre der Götter befinden. Die wenigen Traveler, die diesen Ort während der Antike besucht hatten, hatten vage Berichte von einer hohen Bergkette und einer magischen Stadt hinterlassen. Vielleicht existierte die Stadt nicht mehr; nichts im Universum war von Dauer. Gabriels Wegweiserin Sophia Briggs hatte die Sphären mit der Welt der Menschen
verglichen; auch sie entwickelten sich und veränderten sich im Laufe der Zeit.
Gabriel wusste nicht, seit wann er auf dem Felsen saß. Er hatte kein Zeitgefühl mehr und orientierte sich allein am veränderten Sonnenstand. Als er angekommen war, hatte die Sonne dicht über dem Horizont gehangen, aber nun brannte sie sich langsam eine Bahn über den Himmel. Der Tag schien zwei oder drei Mal so lang zu sein wie auf Gabriels Erde. Jeder Besucher würde sich darauf einstellen müssen, dass die Nächte in dieser Sphäre scheinbar endlos waren. Jeder neue Sonnenaufgang würde ihm wie ein Wunder vorkommen.
Als die Sonne den höchsten Punkt am Himmel erreicht hatte, veränderte Gabriel seine Sitzhaltung und sah in der Ferne etwas aufblitzen, so als werfe ein Spiegel das Licht zurück. Vielleicht versuchte jemand, Kontakt zu ihm
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