Traveler - Roman
in die Karibik zu gehen. Das betrachtete man als geeigneten Weg, die jugendlichen Energien zu kanalisieren.
Hollis Wilson stammte aus einer in Kirchenkreisen sehr angesehenen Familie, aber er hatte sich geweigert, als Missionar zu arbeiten. Stattdessen schloss er sich den Gangs aus seinem Viertel an. Seine Eltern beteten für ihn und sperrten ihn in seinem Zimmer ein. Als er eines Tages um zwei Uhr morgens nach Hause kam, erwartete ihn ein Pfarrer, der ihm den Dämon aus dem Herzen treiben wollte. Als Hollis in der Nähe eines gestohlenen Autos festgenommen wurde, meldete sein Vater ihn beim örtlichen Polizeisportverein zu einem Karatekurs an. Er hatte gehofft, der Karatelehrer könne ein wenig Struktur in Hollis’ verfahrenes Leben bringen.
Am Ende war es ausgerechnet die disziplinierte Welt des Kampfsports, die Hollis der Kirche abspenstig machte. Nachdem
er in Karate den Schwarzen Gürtel vierten Grades erhalten hatte, folgte Hollis einem seiner Lehrer nach Südamerika. Er blieb in Rio de Janeiro hängen, wo er sechs Jahre lebte und sich zum Lehrer für Capoeira, eine brasilianische Kampfsportart, ausbilden ließ.
»Dann kehrte er nach Los Angeles zurück«, sagte Vicki. »Ich habe ihn bei der Hochzeit seiner Schwester getroffen. Er hat in South Central eine Kampfsportschule aufgemacht.«
»Beschreiben Sie ihn. Wie sieht er aus? Groß? Klein?«
»Breite Schultern, aber schlank. Wilde Haare, wie ein Rastafaria.«
»Und seine Persönlichkeit?«
»Selbstbewusst und eitel. Er hält sich für Gottes Geschenk an die Frauen.«
Hollis Wilsons Kampfsportschule lag an der Florence Avenue, eingezwängt zwischen einem Schnapsladen und einer Videothek. Jemand hatte das Schaufenster in grellen Rot- und Gelbtönen beschriftet. Verteidige dich! Karate, Kickboxen und brasilianische Capoeira. Keine Vertragsbindung. Anfänger willkommen.
Als sie sich der Schule näherten, hörten sie Trommelschlagen. Das Geräusch wurde lauter, als sie die Eingangstür öffneten. Hollis hatte aus Spanplatten einen Rezeptionsbereich gebaut, mit einem Schreibtisch und Klappstühlen. An einer Pinnwand hingen die Zeiten der einzelnen Kurse aus, Poster warben für örtliche Karatewettkämpfe. Maya und Vicki gingen an zwei kleinen Umkleideräumen vorbei. Es gab keine Türen, die Durchgänge waren mit alten Bettüberwürfen verhängt. Am Ende erreichten sie einen langen, fensterlosen Raum.
In der Ecke saß ein alter Mann und schlug auf seine Congas. Der Schall wurde von den Betonwänden zurückgeworfen. Die Capoeiratänzer trugen T-Shirts und weiße Baumwollhosen und hatten sich im Kreis aufgestellt. Sie klatschten im Rhythmus
der Trommeln in die Hände und verfolgten einen Zweikampf. Einer der Gegner war ein kleiner Latino mit einem Denk kritisch! -T-Shirt. Er versuchte, sich gegen einen Schwarzen Mitte zwanzig zur Wehr zu setzen, der zwischen den Tritten Anweisungen rief. Der Schwarze sah kurz in Richtung Besucherinnen, und Vicki berührte Mayas Arm. Hollis Wilson hatte lange Beine und muskulöse Arme. Seine Dreadlocks fielen ihm bis auf die Schultern. Nachdem sie eine Weile zugeschaut hatte, drehte Maya sich zu Vicki und flüsterte: »Das ist Hollis Wilson?«
»Ja. Der mit den langen Haaren.«
Maya nickte. »Der ist gut.«
Capoeira stellte eine eigentümliche Mischung aus Grazie und Gewalt dar, die als ritualisierter Tanz daherkam. Nachdem Hollis und der Latino ihre Trainingsrunde beendet hatten, traten zwei andere Männer in den Kreis. Sie gingen aufeinander los und kombinierten ihre Schwinger mit Überschlägen und Drehkicks. Ging einer zu Boden, stützte er sich mit flachen Händen ab und trat aus dem Liegen weiter. Die Bewegungen waren fließend und die T-Shirts aller Beteiligten schweißgetränkt.
Jeder der Schüler kam einmal an die Reihe. Hollis ging immer wieder dazwischen, um einen Angriff oder eine Verteidigung zu demonstrieren. Der Trommler wurde schneller, und jeder Kämpfer kam ein zweites Mal dran. Dann folgte eine Serie von Zweikämpfen mit verstärktem Beineinsatz und blitzschnellen Seitenkicks. Hollis nickte dem Trommler zu, und der Kampf war zu Ende.
Die Schüler saßen erschöpft auf dem Boden. Sie streckten ihre Beine aus und holten tief Luft. Hollis wirkte überhaupt nicht müde. Er lief vor ihnen auf und ab und redete im Tonfall eines Laienpredigers auf sie ein.
»Es gibt drei Arten menschlicher Reaktion: die bewusste, die instinktive und die automatische. Bewusst bedeutet, dass
man über sein Tun nachdenkt.
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