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Traveler - Roman

Traveler - Roman

Titel: Traveler - Roman Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Wilhelm-Goldmann-Verlag <München>
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aufzubehalten.
    Als Kennard Nash das Weiße Haus verlassen musste, folgte Lawrence ihm zu seinem neuen Arbeitgeber, der Evergreen Foundation. Es war ihm inzwischen erlaubt, Einsicht in das Green Book, das Red Book und das Blue Book der Bruderschaft zu nehmen, die einen historischen Abriss des Wirkens dieser Organisation sowie Berichte über die Traveler und die Harlequins enthielten. Seit geraumer Zeit hatte die Bruderschaft den brutalen Kontrollmethoden von Diktatoren wie Hitler oder Stalin abgeschworen und favorisierte stattdessen das ausgefeiltere Panopticon-Prinzip, das von Jeremy Bentham entwickelt worden war, einem britischen Philosophen des achtzehnten Jahrhunderts.
    »Wenn jeder glaubt, überwacht zu werden, braucht man nicht jeden zu überwachen«, erläuterte Nash. »Bestrafungen sind nicht notwendig, aber man muss in den Köpfen der Menschen den Glauben an die Unausweichlichkeit von Bestrafung verankern.«
    Bentham war überzeugt gewesen, dass der Mensch keine Seele besaß, dass jenseits der fassbaren Welt nichts existierte. Er vermachte der University of London sein Vermögen unter der Bedingung, dass man seinen toten Körper konservieren, ihm seine Lieblingskleidung anziehen und ihn in einer Glasvitrine ausstellen würde. Die Leiche des Philosophen war ein heimliches Heiligtum der Bruderschaft, und ihre Mitglieder besuchten es bei jedem ihrer Besuche in London.
    Vor einem knappen Jahr war Lawrence nach Amsterdam geflogen, um sich mit einigen jener Leute zu treffen, die im Auftrag der Bruderschaft das Internet überwachten. Da er einen Tag Aufenthalt in London hatte, fuhr er mit dem Taxi zum University College. Er betrat den Campus von der Gower
Street und überquerte den großen Vorplatz. Es war Spätsommer und relativ warm. Studenten in Shorts und T-Shirts saßen auf den Marmorstufen vor dem Wilkins Building, und Lawrence beneidete sie um ihre Lässigkeit und Freiheit.
    Bentham saß auf einem Stuhl in einer Vitrine mit Holzrahmen nahe des südlichen Kreuzgangs. Sein Skelett war von allem befreit worden, was hätte verwesen können, um anschließend mit Stroh und Baumwolle gepolstert und in die Kleidung des Philosophen gesteckt zu werden. Der Kopf des Philosophen war ursprünglich in einem Behältnis zu seinen Füßen aufbewahrt worden, aber Studenten hatten ihn gestohlen und damit auf dem Vorplatz Fußball gespielt. Inzwischen wurde der Kopf im Keller verwahrt. Ersetzt wurde er durch ein Modell aus Wachs mit einem bleichen, geisterhaft wirkenden Gesicht.
    Normalerweise saß fünf Meter vom Philosophen entfernt ein Wachmann in einer identischen Vitrine aus Glas und Holz. Die Bruderschaftler, die zum Erfinder des Panopticons pilgerten, machten oft die scherzhafte Bemerkung, dass man unmöglich beurteilen könne, wer unbeweglicher war – Jeremy Bentham oder der Lakai, der die Leiche bewachte. Aber an jenem Nachmittag war kein Wachmann zu sehen, und Lawrence befand sich allein im Saal. Langsam näherte er sich der Vitrine und starrte das Wachsgesicht an. Der Franzose, von dem es modelliert worden war, hatte besonders gute Arbeit geleistet, und Benthams leicht nach oben gewölbte Lippen schienen auszudrücken, dass er mit den Entwicklungen der letzten Jahre durchaus zufrieden war.
    Nachdem Lawrence die Leiche eine Weile betrachtet hatte, wandte er sich nach links, um sich eine kleine Ausstellung über Benthams Leben anzuschauen. Er blickte nach unten und stellte fest, dass jemand mit rotem Fettstift etwas auf die stumpfe Messingleiste am unteren Rand der Vitrine gezeichnet hatte: ein Oval und drei schräge Linien. Dank seiner
Nachforschungen wusste Lawrence, dass es sich um eine Harlequin-Laute handelte.
    War es ein Symbol der Verachtung? Ein trotziger Kommentar der Feinde? Er ging in die Hocke, betrachtete die Zeichnung näher und entdeckte, dass eine der Linien in Wahrheit ein Pfeil war, der auf Benthams gepolstertes Skelett zeigte. Ein Zeichen. Eine Botschaft. Er blickte den Kreuzgang hinunter, der an einem weit entfernten Wandteppich endete. Irgendwo im Gebäude knallte eine Tür, aber niemand erschien.
    Na los, tu etwas, dachte er. So eine Gelegenheit kommt nie wieder. Die Tür der Vitrine war mit einem kleinen Vorhängeschloss gesichert. Aber er zog kräftig daran und riss den Riegel heraus. Als die Tür sich quietschend öffnete, suchte er die äußeren Taschen von Benthams schwarzem Rock ab. Nichts. Dann knöpfte Lawrence den Rock auf, tastete das Baumwollfutter ab und stieß auf eine Innentasche.

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