Treibgut - 11
Er hob den Kopf wieder und sah Querinia an. Sie blickte in seine schwarzen Augen und entdeckte etwas wie Hunger darin.
Genüßlich zerkaute Imelde ein weiteres Stück Konfekt. Sie verspürte immer diese unbändige Lust auf Süßigkeiten, bevor sie ihr Monatsbluten bekam. Das war so, solange sie zurückdenken konnte: Pünktlich vier Tage vor Einsetzen der ersten Blutung meldete sich jenes Gelüst, das ihren Speiseplan so lange bestimmte, bis ihre Tage gekommen waren. Dann verschwand es spurlos, um sich knapp dreieinhalb Wochen später wieder zu melden. In der Zwischenzeit blieb sie von solchen Leckereien wie Kuchen oder Törtchen völlig ungerührt.
»Du hast es nicht vergessen? Nicht wahr, Liebste?« erkundigte sich Marno. Sie schluckte den letzten Bissen hinunter und ließ ihre Hand unentschlossen über einem weiteren Stück Konfekt kreisen.
»Wie könnte ich?« antwortete sie. »Ich habe einige Sklaven zum Markt geschickt und bereits mit Curma die Speisenfolge durchgesprochen. Wie lange wird er bleiben?«
»Wie immer, denke ich«, gab Marno zurück, »wahrscheinlich nicht länger als drei Tage. Er ist ein beschäftigter Mann und viel auf Reisen. Und wie immer wirst du ihn wahrscheinlich ohnehin kaum zu Gesicht bekommen. Wir haben manches zu besprechen.«
Imelde mochte Boromeo nicht und schaute seinem Besuch in nur noch vier Tagen mit Grausen entgegen. Zwar war er einer der ältesten Freunde ihres Mannes, doch ihr war er unheimlich. Selbst Marno hatte zugeben müssen, daß Boromeos Augen, deren Augäpfel kleine schwarze Einschlüsse im umgebenden Weiß aufwiesen, gewöhnungsbedürftig waren. Hinzu kam, daß sich in der Stadt hartnäckig das Gerücht hielt, Boromeo Wulweshjoden könne einen mit einem einzigen Blick seiner Augen verhexen und entweder auf der Stelle töten oder zu Stein erstarren lassen. Marno hatte darüber gelacht und es ›Altmännergeschwätz‹ genannt, als sie es ihm vor Jahren erzählt hatte, und hinzugefügt: »Abgesehen davon haben viele Magier derlei Fähigkeiten, ohne daß man sie fürchtet, und Boromeo ist nicht einmal ein solcher.« Marno hielt große Stücke auf ihn, zumal Boromeo ein Neffe Onjegin Wulwes’H’Jodens war, des Tempelschatzmeisters und Mitglieds des Hohen Rates Al’Anfas.
Jahr für Jahr, in der zweiten Hälfte des Perainemondes, stattete Boromeo ihnen – besser gesagt Marno – seinen Besuch ab. Er pflegte dann zwei oder drei Tage zu bleiben, eine Zeit, die er fast ausschließlich mit Marno verbrachte. Sie redeten bis spät in die Nacht, tranken oft bis zum Übermaß oder rauchten Rauschkräuter.
Zu Anfang hatte Imelde Marno nach Boromeo befragt, was er täte, warum er soviel auf Reisen sei und was die beiden Männer so Wichtiges miteinander zu besprechen hätten. »Er ist so etwas wie ein Kurier«, hatte Marno auf die eine Frage geantwortet und »Jugenderinnerungen« auf die andere. Welche Erinnerungen das waren und wie er den Neffen einer so einflußreichen Persönlichkeit kennengelernt hatte, wollte Marno Imelde nie verraten. Mit der Zeit hatte sie den Eindruck gewonnen, daß diese jährlichen Treffen so etwas wie ein Jahrestag sein mußten. Irgendwann hatte sie das Ganze nicht mehr gekümmert. Boromeo Wulweshjoden kam eben wie die Jahreszeiten oder besser: wie schlechtes Wetter oder die Namenlosen Tage.
Imelde nahm ein weiteres Stück Gebäck. Durch das Fenster sah sie Livas gebeugte Gestalt zum Tor schlurfen, sein kurzer Vormittagsschatten war gnomenhaft verzerrt. Sie hatte dem Sklaven gestattet, das Anwesen zu verlassen, nachdem er ihr erklärt hatte, daß er für den weiteren Unterricht der Kinder Federkiele und Zutaten für eine Tinte benötige, wie sie die Zöglinge der Praiosschule zu Neetha verwandten. Da er kurz nachdem Nestorio mit den anderen losgezogen war, bei ihr vorstellig geworden war, hatte sie ihn noch getadelt, warum ihm das nicht früher eingefallen sei, das könne man von einem nicht ganz gewöhnlichen Sklaven wie einem Hauslehrer doch wohl erwarten, auch gebe es sicher im Hause Federn und Tinte genug. Er hatte sie daraufhin mit der ausschweifenden Erklärung gelangweilt, daß für den Neuling in der Kunst des Schreibens, zumal wenn es sich um ein Kind handle, nicht jede Feder geeignet sei, selbiges gelte auch für die Tinte, die er zu mischen gedenke, da sie leicht wieder entfernbar sein müsse, um nicht unnötigerweise Pergament zu verschwenden.
Imelde war zwar die Existenz einer derartigen Tinte unbekannt gewesen, doch da sie das
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