Treibgut - 11
»Deshalb habe ich dich kommen lassen, weil es mich beunruhigt. Doch was bringst du mit dir? Den Kern eines der sechzehn Disken und von all denen ausgerechnet den Xanjidas!« Scheïjian blickte dorthin, wohin der zierliche Finger zeigte, auf die Festgesellschaft, auf die winzige Figur einer der Personen am Tisch. Sie stellte einen bärtigen Mann dar, gekleidet in ein rotes Gewand mit gelben Tupfen; hinter ihm lehnte an einem Baum ein Spieß. Ein bärtiger Mann, auf den ersten Blick. Auf den zweiten aber war es gar kein Mann.
Scheïjian fröstelte. Der Stil des Bildes war völlig unmaraskanisch, die abgebildete Landschaft ebenso. Die Szenerie mußte weit im Norden, in den kalten Ländern, angesiedelt sein. »Woher hast du das Bild? Wer hat es gemalt? Wen stellt es dar?« fragte er.
»Das Gemälde ist das Geschenk eines Prinzen. Es wurde nicht auf unserer Insel gemalt, nicht einmal in den nahen Städten des Festlandes, sondern weit weg, auf der anderen Seite des Kontinents, wo Maraskan kaum mehr als ein Name ist, wo man weder unser Volk noch unseren Glauben kennt, schon gar nicht unsere Schriften. Ein Geschenk des Prinzen Kasparbald von Nostria, der auch der porträtierte Reiter darauf ist. Vor drei Jahren weilte er in Tuzak, kurz nachdem ich eine der Hochgeschwister geworden war. Der Prinz war von zu Hause ausgerissen und kam bisweilen in den Tempel.«
»Also hat er diese Figur darauf malen lassen?«
»Woher hätte er davon wissen können? Prinz Kasparbald war einfach nur ein Junge, kaum älter als ich.« Scheïjian behielt für sich, was er hatte einwenden wollen, und ließ Milhibethjida fortfahren. Ein helles Kleinmädchenlachen kam aus ihrer Kehle: »Außerdem interessierte sich der Prinz nicht halb soviel für unseren Glauben wie für unsere Küche. Er kam auch nur deswegen in den Tempel, um mir den Hof zu machen oder mich zu überreden, mit ihm ein Spiel seiner Heimat namens Zapfenklickern zu spielen.« Sie verzog gedankenverloren den Mund und scharrte mit dem Fuß spielerisch über den Teppich. »Die Hohe Schwester mußte das allerdings ablehnen, auch wenn sie ihrem Alter entsprechend nicht abgeneigt war. Ihr Amt gibt ihr viel, aber es verweigert ihr auch ebensoviel.«
»War er denn allein in Tuzak?«
»Nein, zusammen mit einer Bardin und einem Mann oder einer Frau, ich weiß es nicht mehr. Das spielt auch keine Rolle, ich möchte, daß du zu dem Prinzen reist und herausfindest, wie die Figur auf das Bild kommt.«
»Es könnte alles ein Zufall sein«, gab Scheïjian zu bedenken. »Warum brauchst du dazu ausgerechnet mich? Warum schickst du nicht einen deiner Priester oder Priesterinnen?«
»Weil du Maraskan schon zuvor verlassen hast, Scheïjian, weil du ein gebildeter Mann bist, Magus, und wegen der Zeiten, in denen wir leben und die kommen werden. Die Reise ist weit, und wenn sie schon jemand wagen muß, dann jemand, der es gelernt hat, zurückzukehren. Ich will, daß dies unter uns bleibt, denn dieser Tempel ist schwatzhaft genug.«
Scheïjian trat zu einem der kleinen Fenster und schaute von der Höhe des Tempelturms über die Dächer der Stadt, hinunter auf das Gewimmel in den Straßen. Nach einiger Zeit fragte er: »Wann bekamst du das Bild?«
»Vor fast zwei Monden.«
»Und du wußtest nicht, daß ich im Besitz der Scheibe war?«
»Das sagte ich.«
»Ich werde es für dich tun, aber es hat seinen Preis.«
»Nenne ihn, und er wird auf Heller und Kreuzer bezahlt werden, wenn er nicht maßlos ist.«
Er drehte sich zu Milhibethjida um. »Gold interessiert mich nicht, aber ich will vom heilkräftigen Wasser des Talued.«
Die Priesterin stieß einen Pfiff aus. »Das ist ein hoher Preis, denn wie du weißt, gibt es nur noch wenige Reste des Wassers, das die Quelle einst spendete, und wir hüten sie sorgsam. Du mußt mir schon sagen, wozu du es brauchst?«
Nachdenklich und wie zu sich selbst begann er: »Es soll mich von einer Wunde heilen. Ich habe sie verursacht, zwar nicht mit meinem Willen, aber doch mit meiner Hand. Siehe, Priesterin, es bedeutet mir nichts, ein Leben zu nehmen, da es nur geschieht, wenn Bruder Boron es gestattet, aber es bedeutet mir etwas, eines zu nehmen, das doch nicht genommen wird, sondern nur zerstört.« Ausführlich erzählte er ihr die Geschichte Querinias.
»Wo ist sie jetzt?« fragte Milhibethjida.
»Sie liegt in einem verlassenen Haus. Ich führte sie dorthin und sagte ihr, sie solle die Augen schließen. Sie tat es in Erwartung ihres Todes, und da ich mir
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