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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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älter als ein Knabe.
    »Ich verlange nicht die Dienste der Bruderschaft«, riß ihn die Priesterin aus seiner Betrachtung, »sondern die deinen. Du schuldest mir etwas.«
    Scheïjian verzog den Mund: Darauf wollte sie also hinaus! »Hohe Schwester«, sagte er, »es ist fast ein Jahr her, daß ich mir während Endijians Aufbegehren dein Aussehen verlieh, um ihm die Kunde zu überbringen, der Zweite Finger werde auf sein Recht verzichten, ihn zu töten. Ich tat es nicht, um dich zu verhöhnen, sondern um ihn lebend zu finden. Du hast mich später verstehen lassen, daß dich dieses Vorgehen erboste. So ist es, so war es, doch scheint es mir etwas kühn, daraus nun abzuleiten, du könntest mir befehlen, und ich müßte dir folgen. Ich lieh mir nur dein Aussehen, nicht deinen Körper, Bruderschwester.«
    Milhibethjida hatte während seiner Rede die Oberlippe in den Mund gezogen und darauf herumgesaugt, jetzt antwortete sie: »Davon sprach ich nicht, Scheïjian von Tarschoggyn, sondern von einer Schuld, die älter ist, wesentlicher älter, und an die du dich nicht erinnern kannst. Doch wenn dich danach verlangt, werde ich sie dir nennen. Willst du?«
    Ein klammes Gefühl beschlich Scheïjian, und schmerzhaft fiel ihm eine Bemerkung Alryschas aus dem letzten Ingerimm ein, geäußert an dem Tag, nachdem der Pakt geschlossen worden war: »Ein Kind nennst du sie, Scheïjian, ein Kind? Ich sage dir, sie erinnert sich!« Sie hatte dabei denselben Gesichtsausdruck gehabt wie seinerzeit in Alrurdan, als sich zeigte, daß der Händler keineswegs nur ein gewöhnlicher Kaufmann war.
    Es mochte eine List sein, es mochte die gleiche Vorgehensweise sein, mit der sie Endijians Respekt errungen hatte. Aber es konnte auch die Wahrheit sein. Wie alle Gläubigen Rurs und Grors hegte Scheïjian keinen Zweifel daran, daß er schon mehr als einmal gelebt hatte, seitdem Rur den Weltendiskus geschleudert hatte. Man lebte und starb, und bevor Tsa neues Leben gab, schenkte der milde Boron seine Gabe: die Ruhe, den Frieden, das Vergessen. Es gab Geschichten, Bauerngeschichten, die besagten, daß er es nicht immer tat. Dafür mochte es Gründe geben, deren Geheimnis der Herr des Todes nur mit seinen Geschwistern und Rur selbst teilte. Es mochte Phantasterei sein, doch diese Geschichten gab es. Und weil es diese Geschichten gab und weil diese Elf- oder Zwölfjährige vor ihm sich nicht benahm wie ein Kind, obwohl ihre ganze Erscheinung davon kündete – weder Gesicht noch Hände hatten ihren endgültigen Ausdruck gefunden, und soweit man es unter dem Priesterinnengewand überhaupt erahnen konnte waren ihrem kindlichen Körper noch nicht einmal Brüste geknospt –, zog Scheïjian es vor, sich zu hüten. Es mochte sein, daß sie sich an ihn erinnerte, aber aus einem Leben, von dem er nichts mehr wußte.
    Und nur ein Narr würde danach fragen. Nur ein Narr würde freiwillig Borons reinigende Gabe zurückweisen, würde freiwillig nach den Dummheiten, Schmerzen und verpaßten Gelegenheiten eines vergangenen Lebens fragen, würde freiwillig wissen wollen, welches Unrecht er getan, welches Leid er zugefügt, welchen kleinlichen Träumen er nachgehangen, was und wen er in jenem Leben verloren und wie er darunter gelitten hatte. Und nur ein Narr würde erfahren wollen, daß er vielleicht einst glücklicher gewesen war, daß das Leben, das er jetzt führte, nur der billige Schatten eines früheren Daseins war. Nur ein Narr. Scheïjian war kein Narr. Und selbst wenn sie ihn nur täuschte, er wollte keinen Grufthauch in seinem Leben, wollte keine fernen Schatten, es gab schon gegenwärtige Schatten genug. Er schüttelte den Kopf. »Was willst du?«
    »Verzeih, Bruder«, entgegnete Milhibethjida, »es ziemt sich nicht für eine Priesterin der Zwillinge, den Gläubigen zu befehlen. Verzeih dieser Schwester, sie ist noch jung an Jahren. Laß mich deshalb mein Anliegen zurückstellen, denn du sagtest, du habest ein eigenes. So ziemt es sich.« Scheïjian schaute sie überrascht an. Es schien kein neues Manöver zu sein, denn Betrübnis, ja, sogar Scham, lagen auf ihrem Gesicht. Dieses Kind! dachte er.
    Scheïjian griff unter seine Jacke und zog aus einem Brustbeutel die schwarze Metallscheibe hervor: »Vielleicht kannst du mir dazu etwas sagen.« Die Priesterin nahm das Endurium entgegen und drehte es murmelnd in den Händen. Mit einem eigentümlichen Blick fragte sie: »Wie kommst du dazu?«
    »Ich fand es bei einem Mann, in dessen Hände es vermutlich nicht

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