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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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gehörte«, antwortete Scheïjian.
    »Und wo?«
    »Spielt das eine Rolle? Ich traf ihn in Al’Anfa, der Stadt seines Todes. Aber ich glaube nicht, daß er die Scheibe von dort hatte; er war sehr reisefreudig.«
    »Es ist der Kern des Diskus unserer Schwester Xanjida«, erklärte Milhibethjida. »Sie ist eine der sechzehn Ausgesandten, und es scheint mir kein gutes Zeichen. Sie hätte es nicht freiwillig hergegeben. Kannst du mir nicht mehr darüber erzählen, wie jener Mann in seinen Besitz kam?«
    Scheïjian zuckte mit den Schultern. »Wie ich sagte, er war reisefreudig. Doch ich kam nicht, um dir die Scheibe zu bringen, sondern weil die Zeichen darauf meine Neugier weckten und weil es mir im längeren Teil eines Mondes nicht gelang, ihre Bedeutung zu entschlüsseln.«
    Wieder warf ihm Milhibethjida diesen eigentümlichen Blick zu. »Das wundert mich nicht. Es ist ein Rätsel aus dem 64. Draijsch der Heiligen Rollen, an dem sich schon viele unseres Glaubens versucht haben. Wäre es dir innerhalb eines Mondes gelungen, es zu entschlüsseln, dann hättest du alle vor dir übertroffen.«
    »Auch für ein Rätsel ist es nicht sehr verständlich«, bemerkte Scheïjian.
    »Das haben Rätsel an sich, Magus«, entgegnete die Priesterin. Sie entnahm einem Kästchen Papier und Schreibzeug und begann, die Zeichen auf der Enduriumscheibe auf ein Blatt zu übertragen. Dabei erklärte sie: »Um es zu lösen, muß man die Silben nach einem bestimmten Schema anordnen und anschließend gewisse Silben durch ihre Spiegelsilben ersetzen. Was man erhält, ergibt in der wiederum richtigen Anordnung die Lösung. Ich nehme an, du verstehst Tulamidya.« Scheïjian nickte, und Milhibethjida reichte ihm den Bogen.
    Er las: »In seinem einundvierzigsten Jahr erfüllte Rurech Gram, denn es herrschte Hunger, und die Surgh wüteten. Eine Frau kam zu Rurech, haarig waren ihre Arme und Beine, haarig auch ihre Brüste und ihr Gesicht. Ein roter Umhang bedeckte ihre Schultern, einen spitzen Spieß trug sie. Sie sprach: ›Wenn die Welt ein Diskus ist, was ist sie, wenn Gror sie einst zurückwirft?‹ So antwortete Rurech: ›Das, was sie jetzt schon ist.‹ Die Frau sprach: ›Wenn die Welt ein Geschenk Rurs an Gror ist, was wird sie sein, wenn Gror sie einst zurückwirft?‹ So sprach Rurech: ›Das, was sie jetzt schon ist, Grors Geschenk an Rur.‹ So sprach die Frau: ›Erkenne, mein Bruder: Gror ersehnt sein Geschenk.‹ So gab sie Rurech neuen Mut, und viel Zeit verging, bis die Kinder Rurechs sie wiedertrafen.«
    Als Scheïjian mit Lesen fertig war, sagte er: »Wesentlich klarer ist es dadurch nicht geworden.«
    »Darum geht es nicht. Ich habe es dir aufgeschrieben, wie man es im Tulamidya Khunchoms ausspräche. Warst du jemals in Fasar? Ja? Erinnerst du dich, wie man dort spricht? Gut, dann füge die Silben jetzt so zusammen, wie es ein Fasarer täte.«
    »Wahrscheinlich komme ich mit den Silben nicht aus, jedoch …« Er fing an zu schreiben und war erstaunt, daß noch einige Zeichen übrigblieben. »Und nun?« Milhibethjida nahm ihm die Feder aus der Hand. »Auch sie ergeben Sinn, wenn man sie passend anordnet. Man erhält: ›mit gelben Flecken‹. Verstehst du? Im Fasarer Dialekt trägt die Frau einen roten Mantel mit gelben Flecken: Sie ist haarig; rot mit gelben Flecken und einem Spieß oder Stachel. Das weist auf eine Maraske! Deshalb nehmen wir an, daß es eine Prophezeiung für die Beni Rurech war, daß sie einst Maraskan besiedeln würden, auch wenn die Prophezeiung erst Jahrhunderte nach der Besiedlung entschlüsselt wurde. Aber das ist noch nicht alles. Im Dialekt Mherweds hätte sie schwarze Flecken gehabt. Bemerkenswert, nicht wahr?«
    »Verblüffend!« gab Scheïjian zu.
    »Wir sind damit noch nicht zu Ende, denn es gibt weitere Lösungen in Garethi, Bosparano, Ruuz und möglicherweise sogar im Alaani der Norbarden, aber das ist nur eine Vermutung, die einer der Schüler Zendajians des Stillen in einer Schrift über seinen Lehrer zitierte.«
    Scheïjian räusperte sich: »Und in allen Sprachen bedeutet es etwa das gleiche?«
    »Nein. Am ähnlichsten ist noch die garethische Lösung. Allerdings trägt die Frau dort keinen Spieß, sondern zwei Dolche. In den anderen Sprachen ergibt es etwas völlig anderes. Im Bosparano zum Beispiel spricht Rurech mit einem Vogel. Staunst du schon genug, Scheïjian von Tarschoggyn? Ich habe noch mehr für dich.«
    Sie deutete auf eine bestimmte Stelle des Gemäldes und winkte ihn heran:

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