Treibgut - 11
kümmern. Gleich nach ihm kam ein weiterer von Natur aus großgewachsener, aber durch Jahre des Buckelns krummrückig gewordener Mann. Der zunächst Herausgetretene beäugte ihn mißbilligend. »Nicht jetzt, Sumudan, nicht jetzt. Ich komme am Markttag zurück, dann kannst du mich weiterquälen. Doch jetzt« – er fuhr sich mit dem behandschuhten Zeigefinger über die bartlose Oberlippe – »erwartet mich Angenehmeres.« Die Bewegung der Hand ging über in ein geziertes Winken, dann entschwand er, und die Gardisten konnten endlich mit ihrem Gefangenen das Gebäude betreten.
Kopfschüttelnd ging Scheïjian an der Front des Bauwerks entlang, das der örtliche Kerker zu sein schien. Er hatte ebenerdig schmale Öffnungen, die mit geneigt stehenden Gittern verschlossen waren. Durch diese Öffnungen konnte man in das Gebäude hineinsehen, hinunter in Kellerräume, wo schmutzverschmierte bleiche Gesichter mehr zu erahnen als zu erkennen waren. Bettelnde Rufe drangen aus der Tiefe herauf, vor manchem Gitterloch sah man Angehörige eines Insassen stehen und Nahrung hinabreichen oder einen mildtätigen Passanten kurz innehalten und ein Stück Brot oder etwas Obst hinunterwerfen. Diese Gaben wurden offen unter den Augen der Hellebardiere hinabgereicht, und Scheïjian fragte sich, was wohl mit jenen geschah, die keine Verwandten draußen hatten, welche sie mit Nahrung versorgten. Ob man sie schlicht verhungern ließ? Der Glatzköpfige fiel ihm wieder ein. Laß es dir zur Warnung gereichen, dachte er in Erinnerung an die Zerstreutheit, die ihm kurzfristig an diesem Tag hatte einreden wollen, er könne Querinia noch irgendwann einmal von Neetha erzählen.
Die Nacht war schwül. Schlaflos lag Scheïjian auf der schmalen Pritsche der winzigen Dachkammer, die er mit zwei Dutzend Stechmücken teilte. Der Schweiß rann ihm vom Körper, und immer wenn er gerade hoffte, endlich Schlaf zu finden, näherte sich ein hohes Sirren, nach dem er blind schlug, worauf es kurzzeitig verstummte, das aber bald darauf wieder zu hören war. Die Neehtaer Blutsauger schienen geradezu verrückt nach diesem fremden Saft. Durch die Fensterluke kam zwar das vielfältige Flüstern der Nacht, hallten Schritte, drangen ferne Stimmen, klang das oftmals unterbrochene Spiel einer Laute, aber es wehte kein frischer Lufthauch herein.
Scheïjian dachte zurück an die Begegnung des Nachmittags. Sie erinnerte ihn ein wenig an jenen Tag in Al’Anfa, als er Querinia heimlich gefolgt war, bis zu der Tür, deren Durchschreiten das Schicksal des Mädchens besiegelt hatte. Er dachte weiter an Boromeo Wulweshjoden, der vielleicht hier in den Besitz des Enduriums gekommen war, auf Wegen, zu denen Scheïjian keinen Zugang fand. Vielleicht hätte er sich umhören sollen, doch nach allem, was ihm der Zweite Finger über den Alanfaner erzählt hatte, bezweifelte er, daß er fündig werden würde. Wiederholt fragte er sich, was Tarrad nach Neetha geführt haben mochte und warum er hier eingekerkert worden war. Er kratzte sich ausgiebig und stellte fest, daß er inmitten dieser geflügelten Plagegeister keine Ruhe finden würde. Mürrisch kleidete er sich an, um sich in den nächtlichen Straßen müde zu spazieren.
Doch sein Plan ging nicht auf. Das Bummeln in den verlassenen Gassen dieser fremden Stadt, das Überqueren ihrer leeren Plätze ermüdeten ihn nicht, sondern langweilten ihn nur, füllten ihn statt dessen mit ruheloser Reizbarkeit, deren Ursache er nicht kannte. Er begab sich wieder auf den Rückweg. Kurz vor Erreichen seiner Herberge unterbrach eine Stimme die Stille der Nacht: »Boron zum Gruße, Liva oder Scheïjian, wie du auch zu heißen scheinst.«
Ruhig, doch im Zustand einer gespannten Feder, drehte er sich dorthin, woher die Stimme gekommen war. Er machte drei schlanke Silhouetten aus, die sich aus der Düsternis lösten und gemächlich näher kamen. Das Licht des Madamals enthüllte, wer sie waren: die drei Beschützer Boromeo Wulweshjodens. Als Scheïjian sie bei der Ankunft des Alanfaners im Heim der Gordovanaz’ gesehen hatte, waren sie ihm als dumpfe Totschläger erschienen, doch so, wie sie jetzt daherkamen, wie ein Rudel Khoramsbestien auf der Jagd, erkannte er, daß er sich getäuscht hatte. Das waren keine einfachen Schläger, das waren Leute, die ihr Gewerbe kannten, die wahrscheinlich demselben Beruf nachgingen wie er. Und noch dazu drei an der Zahl.
»Was wollt ihr?« fragte er barsch, stellte sich ihnen breitbeinig entgegen und
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