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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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keinen anderen Rat wußte, wirkte ich einen Zauber, der sie einschlafen ließ.«
    »Falls wir ihr von dem Wasser geben …«, begann die Priesterin.
    »Du wirst«, unterbrach sie Scheïjian. »Das ist mein Preis.«
    »Gut«, gab Milhibethjida nach, »du weißt, was das Wasser bewirkt? Du weißt, daß es nimmt und gibt? Es wird ihr Auge wiederherstellen und die Wunde verschwinden lassen, aber ihr auch ihre Erinnerung nehmen. Bei der Schwere der Verstümmelung vermute ich, daß sie ein halbes oder ganzes Jahr ihres Lebens vergessen wird, und es ist nicht üblich, der Geheilten von dieser Zeit zu erzählen. Sie wird sich an nichts erinnern, auch nicht an dich, du wirst nichts von deinem Preis haben. Ist dir das bewußt?«
    Er antwortete ernst: »Dann soll es so sein, denn dadurch, daß du ihr nimmst, gibst du ihr.«
    »Fast ein Zitat«, bemerkte Milhibethjida. »Anscheinend könnt ihr eurer Vergangenheit nicht entkommen. So ihr jenem nehmt, gebt ihr – ein häufiger Ausspruch Zaborons von Andalkan. Einer eurer Gründer, nicht wahr?«
    Scheïjian schüttelte den Kopf. Er hatte keine Lust, Milhibethjida die Zusammenhänge zu erklären. Die Zaboroniten existierten nicht mehr, die Bruderschaft hatte sie ausgemerzt. Zuviel Vergangenes, dachte er, zu viele Schatten, zu viele Großväter. Borbarads Nahen schien derlei Gedanken mit sich zu spülen.
     
     
     

 
     
    Im Praios des Jahres 24 Hal lernte Scheïjian doch noch Neetha kennen. Schiff um Schiff hatte ihn die Küste entlang um den halben Kontinent getragen, von Tuzak nach Thalusa, über Brabak, Mengbilla und Drôl nach Neetha. Es war eine eintönige Reise, der er kein Vergnügen abgewinnen konnte und die noch nicht zu Ende war. Tage auf dem Wasser, abgelöst von Zeiten untätigen Wartens an Land, bis das nächste Schiff in See stach, um ihn wieder eine Etappe weiter auf seiner Reise zu bringen. Zwar hatte er viel Neues gesehen in diesen Wochen, doch neigten diese neuen Erfahrungen dazu, zu einem gestaltlosen Brei aus Eindrücken und Erinnerungen zu verschwimmen. Wo hatte er doch gleich dieses rotgefärbte Honiggebäck erstanden, dessen Form an Lärchenzapfen erinnerte? War es in Brabak, Khefu, Chorhop oder doch an einem vierten Ort gewesen? Alles floß ineinander, und manchmal glaubte er, daß die Welt überall gleich aussah und daß nur der jeweilige Standpunkt und Blickwinkel Unterschiedlichkeit in sie hineinbrachten. Allerdings eine bedeutsame Unterschiedlichkeit, wie er zu anderen Zeiten wieder einräumte.
    Doch es gab noch andere Gründe, warum ihm diese Reise ganz und gar mißfiel. Er mochte es nicht, sich tagelang einem Schiff anzuvertrauen, ohne es jederzeit nach Belieben wieder verlassen zu können, sondern darauf wie ein Gefangener festzusitzen. Und er mochte es schon aus Gewohnheit nicht, sich immer weiter von allem zu entfernen, was maraskanisch war. Zwar war er oft genug fern seiner Insel unterwegs gewesen, meist jedoch an Orten, wo es maraskanische Exilgemeinschaften gab. Sie waren wie Stützpunkte in der Fremde. Abseits von diesen fühlte er sich regelmäßig wie ein Hase auf offenem Feld, wachsam, doch stets in Gefahr, überrascht und mitleidlos geschlagen zu werden.
    Zwei Tage sollte er sich in Neetha aufhalten, bis das nächste Schiff nach Norden ablegte. Er hatte sich in einem kleinen Gästehaus am Hafen eingemietet und bummelte neugierig durch die Stadt. Sie sah völlig anders aus, als wie er sie Querinia beschrieben hatte. Hier gab es keine Bunte Mauer, hier waren, mit wenigen Ausnahmen, die Häuser nicht rosafarben, sondern aus graugelbem Bruchstein und Lehm errichtet, allenfalls einmal ein besseres aus weißem oder schwarzem Marmor dazwischen. Auch überspannten keine zierlichen Brückchen die Arme des Chabab, denn die Stadt lag schnöde am Nordufer des Flusses, und ob der ferne blaue Dunststreifen am östlichen Horizont überhaupt ein Gebirge war, konnte er nicht einschätzen. Die Goldfelsen waren es jedenfalls nicht, die lagen woanders, so hatte er sich belehren lassen. Nein, dieser schmale Streifen würde in der Abendsonne nicht gülden erstrahlen, diese Stadt würde in ihrem Licht nicht rot aufglühen.
    Trotzdem nahm er sich vor, sich alles gut zu merken, um nach seiner Rückkehr Querinia davon zu berichten. Er beschloß, hier etwas für sie zu kaufen, um es ihr mitzubringen. Wie sehr würde sie staunen, wenn er ihr eröffnete, daß er wirklich in Neetha gewesen war, wie würden ihre beiden wieder geheilten Augen leuchten, wenn er ihr sein

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