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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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wichtig war, wie der Zweite Finger angedeutet hatte, und wenn das stimmte, was Scheïjian von seinen Begleitern vermutete, dann mochte er weitreichende Verbindungen haben, sogar bis hin zur Hand Borons, vielleicht Teil derselben sein. Keine angenehmen Gegner. Gerüchteweise beschränkte sich dieses alanfanische Pendant zur Bruderschaft nicht auf das eigene Volk, sondern besaß ein Netz von Niederlassungen weit außerhalb des Machtbereiches der Rabenstadt, wie man sich erzählte, bis hin ins Albernische. Scheïjian wußte nicht, wie rachsüchtig sie waren, ob sie seine Fährte wieder aufnehmen würden. Der Bruderschaft wäre es zwar gleichgültig, ob sie nach Tuzak kämen, es gäbe nur ein paar weitere, die auf Nimmerwiedersehen in den Wäldern Maraskans verschwänden; anders wäre es, wenn sie bis nach Tarschoggyn fänden. Und selbst wenn es nicht so wäre, hätte es Scheïjian mißfallen, wenn jemand, dem er es nicht gestattete, zuviel über ihn wußte. Derlei konnte Türen öffnen, die stracks zu Schwester Tsa führten. Dieser Dritte durfte Neetha nie verlassen.
    Doch wie konnte man ihn daran hindern? Kurzfristig erwog Scheïjian, ihn der Ermordung seiner beiden Spießgesellen zu bezichtigen, damit der Neethaer Scharfrichter diese bedenklich offene Tür für ihn schlösse. Es galt nur noch zu erklären, wie jener es geschafft haben mochte, dem einen der Getöteten den Schädel einzuschlagen und dem anderen den Dolch in die Brust zu rammen, und warum er anschließend mit gezücktem Schwert davongerannt war. Fadenscheinig, das Ganze. Außerdem – wenn es wirklich jemand von der Hand Borons war, durfte man dieses Geschäft nicht der Obrigkeit überlassen. Leicht mochte sich jemand finden, der eine schützende Hand ausbreitete. Es gab Gerüchte. Also mußte Scheïjian selbst an ihn herankommen. Er durfte nicht warten, bis der Mann wieder aus dem Kerker entlassen wurde, was hoffentlich noch nicht geschehen war, denn dort drinnen war er grundsätzlich erreichbar, vorausgesetzt, Scheïjian kam zu ihm in den Kerker, und zwar auf einem Weg, der ihn auch wieder herausbrachte.
    Nach einer Stunde hatte er seinen Plan entworfen. Er gefiel ihm, denn möglicherweise könnte er damit zwei Hasen in einer Falle fangen, auch wenn das Unternehmen zur Folge hätte, daß er sein Schiff verpassen würde. Alles hing jedoch davon ab, wie reichhaltig der Giftschrank des Apothecarius ausgestattet war. Doch vorerst galt es, Zeit zu gewinnen.
    Er zog sein teuerstes Gewand an und riß schweren Herzens eine Naht auf. Mutter wäre begeistert, dachte er, schloß die Augen und schlug sich kräftig mit dem Stab auf die Nase. Mit einem Schmerzschrei ließ er den Stock fallen und hüpfte fluchend einbeinig durch die Kammer, während er sich mit der Hand das verletzte Organ hielt. »Welche hirnrissige Idee!« schimpfte er unentwegt, bis von nebenan Gepolter und unhöfliche Aufforderungen erklangen, die Nachtruhe zu wahren.
    So hergerichtet, verließ Scheïjian zum zweiten Mal die Herberge auf der Suche nach einem Handlanger der Obrigkeit. Es erwies sich als schwieriges Unterfangen. Neetha war zwar von vergleichbarer Größe wie Tuzak, doch während man dort allenthalben und zu jeder Zeit ganze Streifen schwerbewaffneter kaiserlicher oder fürstlicher Gardisten antraf, so schien hier schon das Auffinden eines einzigen Büttels oder Nachtwächters eine beträchtliche Leistung zu sein. Insofern hatte Wulweshjoden recht gehabt: Diese Stadt war kleinstädtisch.
    Die Hälfte einer Stunde war verstrichen, als Scheïjian endlich einen vollippigen großen Wächter mit blondem mittelgescheitelten Haar traf, dem er weismachte, überfallen und ausgeraubt worden zu sein. So gut, wie es seine Erinnerung zuließ, beschrieb er ihm den inhaftierten Dritten als mutmaßlichen Übeltäter. Das ursprünglich offene Lachen des Wächters verwandelte sich während des Berichts in grimmige, zähnefletschende Entschlossenheit – so etwas konnte in Neetha nicht geduldet werden! Gebannt haftete Scheïjians Blick während seiner Schilderung auf einer der Hände des Büttels. Der hatte die Hand bis auf einen Finger zur Faust geballt und schüttelte sie, wodurch der abgespreizte Finger wie ein kleiner Schlagstock auf und ab wippte. Vor seinem geistigen Auge sah Scheïjian den Blonden, wie er eines Strauchdiebs habhaft wurde und ihn mit der rücksichtslosen Gewalt des einzelnen Fingers verprügelte. Wie grotesk! Der gute Mann schien eine bemerkenswerte Seelenverwandtschaft mit

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