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Treibgut - 11

Treibgut - 11

Titel: Treibgut - 11 Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Karl-Heinz Witzko
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Sicherlich nicht. Er schnüffelte an der Mixtur, rümpfte die Nase, zerpulverte einen Stengel des Wirselkrauts und dachte an seine weit zurückliegende Ausbildung. Zu einem echten Erinnerungszauber würden alle Sinne gehören, Sehen, Riechen, Schmecken, Tasten, Hören. Die Berücksichtigung aller Wahrnehmungsarten schien sehr schwierig zu sein und konnte leicht zu einer dieser eigentümlichen Paradoxa und Singularitäten führen, die keine magische Theorie zu erklären vermochte. Außerdem – wie brachte man Subjektivität in diesen Zauber? Erinnerung war schließlich nicht neutral, war dem Wechselspiel vergangener und gegenwärtiger Ansichten und Gefühle unterworfen, also fließend, damit trügerisch wie die Zeit, die die unangenehme Eigenschaft hat, Dinge in die Gegenwart zu spülen, die man sicher in den Truhen der Vergangenheit wähnt, wobei man vergißt, daß Truhen nicht zwangsläufig mit Schlössern ausgestattet sind. Man sähe es, wenn der Bethanier zurückkehrte, um fortzuführen, was er vor vier Jahrhunderten begonnen hatte. Jedenfalls wäre es interessant gewesen, sich bei Gelegenheit mit den grundlegenden Monomagielen eines derartigen Zaubers auseinanderzusetzen, um zu erfahren, ob mittels suffizienter Reduktion die Thesis eines erinnerungsspendenden Spruchs überhaupt möglich war.
    Das Gebräu schien jetzt die richtige Zusammensetzung zu haben. Als letzte Verfeinerung fügte Scheïjian etwas Rauschgurke hinzu. Ein wahres Geschenk Rurs seiner Meinung nach, für sich allein zwar nur eine harmlose Droge, doch mit der hübschen Eigenschaft, in zahllosen Kombinationen jedem anderen Elixier ihre Stärke zu leihen. Mit Verachtung dachte Scheïjian an die mittelreichischen Soldaten auf Maraskan. Sie aßen die violette Frucht und versanken in wohlige Träume, nicht ahnend, was man sonst noch mit ihr anstellen konnte. Diese Narren!
    Beherzt schluckte er das Gebräu hinunter. Trotz der trüben Farbe und der gefährlichen Zutaten schmeckte es erstaunlich angenehm. Es dauerte nicht lange, bis der Trank wirkte. Zuerst traten eine verstärkte Klarsicht und der Eindruck ein, als trennten sich seine Augen vom Körper, als könnte er in Winkel sehen, die er von seinem Standpunkt aus eigentlich nicht überblickte. Scheïjian begann mit dem Rezitieren der Formel. Augenblicklich stellte sich eine Doppelsichtigkeit ein, und neben der Stofflichkeit und Form der Dinge um sich herum sah er die schimmernden Waben ihrer Auren. Die Droge, die er zu sich genommen hatte, steuerte nun ihren wichtigsten Teil bei. Sie ließ ihn die Gesamtheit des Raums überblicken, als befänden sich seine Augen im Boden, in Decken und Wänden und auch immer noch dort, wo sie waren. So schaute er gleichzeitig von außen auf das Zentrum des Geschehens, das er selbst war, und von innen zum Rand, ohne Mühe und ohne daß sein Geist über die Verwirrnis dieser vielfältigen Splitter und Facetten der Wirklichkeit in die Gefilde des Wahnsinns abgetrieben wäre. Doch da war noch etwas anderes, ein Gefühl heiterer Unrast und Leichtigkeit sowie ein starker Bewegungsdrang. Solche Auswirkungen sollte der Trank nicht haben, sie konnten nur bedeuten, daß die Mixtur nicht genau die Zusammensetzung gehabt hatte, die sie hätte haben sollen. Na und? dachte Scheïjian grundlos kichernd. Ich winde mich nicht in Krämpfen, so schlimm wird’s nicht sein!
    Er konzentrierte sich auf seine eigene Aura und verformte sie allmählich. Vom Treppenhaus hörte er Schritte. Sie mußten der Wirtin gehören. Es klang bezaubernd, dieses Tapptapptapp; er hätte es der fülligen Frau gar nicht zugetraut. Sicher wäre es eine glänzende Idee, ihr den Hof zu machen! Dem Wirt würde es zwar nicht gefallen, aber er würde ihm eben drohen, ihn in ein Schwein zu verwandeln und dann … Scheïjian stutzte über diesen Einfall, denn noch bei seiner Ankunft hatte er sich gedacht, daß der Hintern der Wirtin dem eines Wollnashorns gliche. Ach, Wollnashorn, dachte er, diese Nebensächlichkeiten … Also Glubschaugen hatte der Bursche gehabt und eine ausgeprägte Nase. Er rezitierte angestrengt weiter.
    Von der Straße drangen liebliche Stimmen an Scheïjians Ohr. Noch immer die greulichen Worte des Zhayad murmelnd und knurrend, torkelte Scheïjian zur Fensteröffnung und streckte den Kopf hinaus. Drei Wäscherinnen standen schwatzend auf der Straße. Scheïjian hätte schwören können, daß er noch nie so begehrenswerte Geschöpfe gesehen hatte. Was tue ich hier eigentlich? fragte er sich.

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