Treibgut - 11
in der Morgendämmerung der Zeit aus dem Stein gesprossen war. Das hatten der Staub und Regen von Jahrhunderten bewirkt. Er hatte ihre Wälle geformt und mit dem Felsen vermählt, auf dem sie erbaut worden war. Diese Burg, auf deren Türmen die blaue Flagge mit dem silbernen Fisch wehte, war schon alt gewesen, bevor das mächtige Bosparan unterging. Gleichzeitig jedoch und in Folge der Umbauten nachfolgender Geschlechter und Generationen war dieser Koloß ein Zeugnis der sich wandelnden Festungsbaukunst im Lauf der Jahrhunderte.
Als Scheïjian das spitzbogige Tor mit dem schweren Fallgitter und den unfreundlichen Pechnasen erreicht hatte, begann der längere Teil des Weges. Nur ungern ließen ihn die zahlreichen Wachen passieren – trotz des mitgeführten Schreibens Milhibethjidas, das ihn als einen Gesandten auswies. Schuld daran war, daß einige Zeit benötigt wurde, um einen Befehliger zu finden, der das Pergament zu lesen verstand. Statt nun aber, wie es ein Gesandter erwarten konnte, gleich von einem Protokollbeamten des Hofes empfangen zu werden, führte ihn eine der Wachen schweigend in das Innere der Burg, übergab ihn wortkarg einer anderen, die ihn weiterführte und wiederum der flüchtigen Fürsorge der nächsten auslieferte. Er folgte diesen wechselnden Führern durch zahllose Gänge, durch Treppenhäuser mit ausgetretenen Stufen und hohe Flügeltüren, vorbei an anderen Türen, manche davon zugemauert, bedrohlich wirkend, als könnten sich dahinter weitere Labyrinthe von Gängen und Treppenfluchten befinden. Nach einiger Zeit hatte Scheïjian keine Vorstellung mehr, in welchem Flügel des altertümlichen Bauwerks er sich befinden mochte, und der Verdacht keimte in ihm auf, daß er womöglich unbemerkt die Rolle des Diskus bei der alljährlichen Stafette von Tuzak nach Boran übernommen hatte und daß sein weiteres Schicksal nun darin bestand, bis zum Ende seiner Tage weitergeführt und weitergereicht zu werden. Manchmal hieß man ihn warten. Er stand dann in bedrückend finsteren und zugigen Gängen oder saß auf ausgesessenen Polsterstühlen und glattpolierten Bänken. Diese hatten einen so weichen Glanz, wie ihn kein Tischler schaffen konnte, sondern nur das geduldige Sitzen vieler Generationen.
Wieder einmal wartete er und streichelte über das glatte Holz der Bank. Spielerisch drückte er einen Fingernagel hinein, ohne eine Spur zu hinterlassen. Es war eine Bank aus hartem Holz mit engen Jahresringen. Scheïjian nahm an, daß man sich im Tuzaker Tempel bestimmt über ein Stück davon freuen werde, und erwog aus reiner Langeweile, eine Probe aus der Sitzfläche herauszusägen. Zwar mangelte es ihm an einem geeigneten Werkzeug, doch malte er sich aus, daß er hier bestimmt so lange warten müßte, daß er genügend Zeit hätte, in die Stadt hinabzusteigen, um eine Säge zu besorgen. Vorausgesetzt, er fände den Weg aus der Burg hinaus. Dann kam ihm der Gedanke, daß er vielleicht eben beim Sägen wäre, wenn unter Posaunenschall der Prinz samt Gefolge käme, um Milhibethjidas Gesandten zu empfangen. Er stellte sich das Gesicht des jungen Herrn vor, wenn er vor ihm stünde, das herausgesägte Stück Bank unbeholfen hinter dem Rücken versteckt, und wie Hoheit fassungslos auf die Sägespäne auf dem königlich nostrischen Boden starrte. Er würde dem Prinzen von dem Bild erzählen und von der Figur der bärtigen Frau darauf, und der Prinz würde seine Hand ausstrecken und sagen: ›Nun gebt sie mir schon, bestimmt habt Ihr sie ebenso aus dem Gemälde herausgesägt!‹
Scheïjian kicherte in sich hinein. Er dachte daran, um wieviel köstlicher diese Szenerie noch geriete, wenn der liebe Raschid dabei wäre! Wie unangenehm es dieser grundehrlichen Haut sein müsse, beim Entwenden eines Teils des königlichen Mobiliars ertappt zu werden! Ganz deutlich sah Scheïjian jede peinliche Falte im Gesicht seines alten Gefährten vor sich und lachte weiter. Natürlich müßte man ihm vorher erklären, warum es beinahe einer rondragefälligen Tat gleichkäme, diese Bank zu verunstalten. Scheïjian legte sich gerade einige passende Argumente für diesen hypothetischen Fall zurecht, als sein Kichern vom Echo eines tiefen Lachens beantwortet wurde, dessen voller Klang ihm in die Seele stach.
Es kam vom entfernten Ende des Flurs, wo der Gang abknickte, und wurde begleitet von eiligen Schritten, die gelegentlich verstummten. »Ja, Strandeber, das wäre eine Idee, die mir gefiele«, sagte eine überraschend tiefe
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