Treibgut
mit einer Entscheidung ringe. Seine jahrelange Erfahrung bei Vernehmungen ließ ihn erahnen, dass sie ihm nicht alles gesagt hatte. In der Hoffnung, sein geduldiges Schweigen würde sie sicherer und schneller zum Weitersprechen veranlassen als alles, was er hätte sagen oder erfragen können, schob sich Henning einen weiteren Löffel der mit einem Sahnehäubchen garnierten Eiscreme in den Mund.
Er war gerade dabei, die fruchtige Süße auszukosten, als Elsbeth Satorius einen leisen Seufzer von sich gab. »Weiß der Teufel, was mich reitet, Ihnen das zu erzählen«, meinte sie mit vor Scham glühenden Wangen. »Ich hatte jahrelang ein Verhältnis mit Norbert Fibinger, meinem Chef.«
Als sie weitersprach, überstürzten sich ihre Worte in dem Versuch, ihr Verhalten zu rechtfertigen. »Dabei ist Norbert doch nur wegen Elena bei seiner Frau geblieben. Seine Einstellung dazu hat sich erst geändert, nachdem Elena ihr Elternhaus verlassen hat, um zu studieren. Bevor er jedoch einen Schlussstrich unter seine Ehe setzen konnte, stellte man bei seiner Frau einen bösartigen Tumor fest. Weil er sich schäbig vorgekommen wäre, sie in dieser Situation zu verlassen, beschlossen wir, abzuwarten. Schließlich haben wir uns schon so lange in Geduld geübt, da sollte es auf ein paar Jahre mehr oder weniger nicht ankommen. Hinterher ist man immer schlauer.« Sie schluckte. An ihren feucht glänzenden Augen war unschwer zu erkennen, wie sein Tod sie noch immer mitnahm.
Behutsam fragte Henning nach den Begleitumständen von Norbert Fibingers plötzlichem Ableben.
Elsbeth Satorius’ Miene war schuldbewusst. »Ich kann mir seinen Tod bis heute nicht erklären. Da war nichts, gar nichts! Ich hab ihn gefunden, als ich vom Mittagessen zurückkam. Zuerst hab ich gedacht, er ist eingenickt …«
Henning musste kein Psychologe sein, um den in jedem ihrer Worte enthaltenen Vorwurf herauszuhören. Ein Vorwurf, der sich in erster Linie darauf bezog, ihm nicht beigestanden zu haben: Nicht bei ihm gewesen zu sein, als er seinen letzten Atemzug getan hatte.
Der Kommissar kannte solche Selbstzweifel zur Genüge: Wusste, wie zerstörerisch sie sich auf die Psyche auswirken konnten, wenn man niemanden hatte, um darüber zu sprechen.
»Schlaganfall! Aus heiterem Himmel!«, riss Elsbeth Satorius Stimme ihn aus seinen Gedanken. »Dabei hatte er nie irgendwelche Beschwerden. Nichts, was darauf hingewiesen hätte …« Irgendetwas ließ sie mitten im Satz innehalten.
Henning konnte sehen, wie es hinter ihrer Stirn arbeitete. Ihrer sich verfinsternden Miene nach zu urteilen, schienen es unangenehme Gedanken zu sein: Gedanken, die auszusprechen, ihr widerstrebten. Als sie seinem fragenden Blick begegnete, gab sie sich einen Ruck. »Ich muss da wohl noch was klarstellen: Norbert, äh, also Doktor Fibinger, trank gerne ein Gläschen über den Durst.«
Die Wahl ihrer Worte ließ Henning schlussfolgern, er sei davon abhängig gewesen. Noch bevor er dazu kam, sich zu fragen, wie Elenas Vater in diesem Zustand seinen Beruf ausüben konnte, lieferte ihm Elsbeth Satorius die Antwort.
»Ich weiß genau, was Sie jetzt denken«, sagte sie bitter. »Und als Alkoholiker hat er noch als Arzt gearbeitet?«
Henning nickte zögerlich.
»Im Dienst war ihm nicht das Geringste anzumerken. Er hatte sich eisern unter Kontrolle. Nie ist einer seiner Patienten dadurch zu Schaden gekommen. Ich glaube auch nicht, dass es außer mir überhaupt jemand mitbekommen hat«, bekräftigte sie. »Aber mir hat er nichts vormachen können. Die Erkrankung seiner Frau, ihre ständigen Vorwürfe. Das alles hat ihn zur Flasche greifen lassen.« Sie hielt kurz inne. Ein verklärtes Leuchten trat in ihre Augen. »Dabei war Norbert ein wundervoller Mensch: Einfühlsam und liebevoll. Ich bin sicher, Elena weiß bis heute nichts von unserem Verhältnis. Sie …«, Elsbeth Satorius schien nach den passenden Worten zu suchen, »sie wirkte immer so unbeschwert und fröhlich. Wie schrecklich, dass es ausgerechnet sie so hart treffen musste.« Sie fuhr sich mit einem Taschentuch über die Augen.
Henning streckte die Hand aus und berührte sie mitfühlend am Arm. Aus Rücksicht auf ihre Gefühle hätte er lieber das Thema gewechselt, doch er sah sich gezwungen, sie nochmals auf Norbert Fibingers Todestag anzusprechen. »Bitte denken Sie noch einmal ganz genau nach. An dem Tag, als er gestorben ist, ist da irgendwas Besonderes passiert?«
Um deutlich zu machen, worauf er hinauswollte, fügte er
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