Treibgut
verspätetes Mittagessen ein. Henning nutzte die Gelegenheit, um sich ein Bild von ihm zu machen. Er schätze ihn auf Mitte 40. Obwohl er leicht gehetzt wirkte und der Stress seiner Haut einen blassen Grauschimmer verliehen hatte, war er ein gut aussehender Mann. Nachdem sein Hunger gestillt war, erkundigte sich Henning nach Danko Dierks. Wie sich herausstellte, beschränkte sich ihre Bekanntschaft auf ein hin und wieder gemeinsam eingenommenes Mittagessen. Zu Dankos Privatleben konnte er sich ebenso wenig äußern wie zu der Frage, ob ihm je etwas über eine Affäre seines Kollegen zu Ohren gekommen sei. Das Einzige, was Henning in diesem Zusammenhang in Erfahrung bringen konnte, war, wo Elenas Mann vor seinem Wechsel in die Stadtwaldklinik gearbeitet hatte.
Den Rest der verbleibenden Nachmittagsstunden nutzte er, um Rufus Kirchners ehemaligen Arbeitgeber aufzusuchen. Das von Elena benannte Architekturbüro befand sich am Chrieschwitzer Hang, einem Wohngebiet am Stadtrand von Plauen. Die Räumlichkeiten umfassten die komplette untere Etage eines aus DDR-Zeiten stammenden Plattenbaus. Nachdem sich Henning einen Weg durch das Wirrwarr aus Zeichenbrettern und Computern zum Büro des Chefs gebahnt hatte, sah er sich einem etwa 60-jährigen Hünen mit schütterem, grauem Haar gegenüber, der sich als Dietmar Krebs vorstellte. Die Tränensäcke unter seinen Augen und die hängenden Wangen verliehen seinem Gesicht einen müden und abgekämpften Ausdruck. Als Henning ihn auf seinen ehemaligen Mitarbeiter ansprach, bildete sich eine steile Falte auf seiner Stirn.
»Klar erinnere ich mich an Rufus. Herr Kirchner«, verbesserte er sich rasch, »war einer meiner besten Leute.« Seine Auskunft wurde von tiefem Schnauben begleitet.
Als Henning auf den Unfalltag zu sprechen kam, wandte Dietmar Krebs sich ab und starrte aus dem Fenster. »Herr Kirchner ist auf dem Weg nach Dresden gewesen. Wir haben damals ein vielversprechendes Großprojekt in der Landeshauptstadt laufen gehabt. Eigentlich wollte ich ja selbst hinfahren. Doch dann hat meine Galle plötzlich verrückt gespielt und Rufus musste einspringen.«
Betroffenheit spiegelte sich in seinen Zügen. »Sie glauben gar nicht, welche Vorwürfe ich mir deswegen schon gemacht habe.« Wie um die Erinnerung daran zu verdrängen, schloss er die Augen und legte den Kopf in den Nacken.
»Wussten Sie, dass es bis heute keine Spur von seiner Leiche gibt?«
Dietmar Krebs schien irritiert. »Hieß es nicht, sie könnte sich irgendwo verfangen haben oder abgetrieben worden sein? Wieso wollen Sie das eigentlich wissen?«, erkundigte er sich übergangslos. »Ich meine, weshalb ist das plötzlich so wichtig?«
Henning konnte spüren, wie es hinter seiner Stirn arbeitete. Während er ihm die Hintergründe auseinanderzusetzen versuchte, förderte Dietmar Krebs eine Packung Marlboro zutage. Seine Bewegungen wirkten abgehakt und fahrig. Henning gab ihm einen Moment Zeit, um seine Worte zu verdauen. Das tief inhalierte Nikotin schien eine beruhigende Wirkung auf ihn auszuüben.
»So, so, er soll diesen Unfall also inszeniert haben, um alle Welt in dem Glauben zu wiegen, er sei tot?!«
»Nicht dass wir uns missverstehen: Ich will damit nur sagen, dass es sich so abgespielt haben könnte«, stellte Henning klar. »Doch was hat das schon zu sagen? Im Grunde gar nichts. Können Sie sich einen Grund vorstellen, der ihn zu einem solchen Schritt gezwungen haben könnte? Hat er finanzielle Probleme gehabt, Feinde oder Widersacher?«
Nachdenklich fuhr sich Dietmar Krebs mit der Hand übers Kinn. »Keine Ahnung. Am nötigen Geld dürfte es kaum gelegen haben. So schlecht hat er bei mir nun auch nicht verdient.« Er hielt kurz inne. »Andererseits …, nun also, ich meine, wussten Sie, dass er sich selbstständig machen wollte?«
Auf Hennings Nicken hin kam er auf Kirchners Bauvorhaben zu sprechen. »Allein schon die Baupläne – als Architekt musste da natürlich alles vom Feinsten sein. Vielleicht sollten Sie mal überprüfen, inwieweit ihm das das Genick gebrochen haben könnte. Aber deswegen gleich seinen Tod vorzutäuschen? Also ich weiß nicht«, ergänzte er kopfschüttelnd.
Wie sich im Verlauf des Gesprächs herausstellte, wusste Dietmar Krebs weder von möglichen Feinden noch davon, dass Rufus Kirchners damalige Freundin ein Kind von ihm erwartete. »Tut mir leid. Aber über sein Privatleben ist mir kaum etwas bekannt. Unsere Beziehung war rein geschäftsmäßiger Natur. Hören Sie
Weitere Kostenlose Bücher