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Treibgut

Treibgut

Titel: Treibgut Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Maren Schwarz
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dass sie erstaunliche Fortschritte machte, war er einen Moment lang versucht, Peer über Leonas Mutmaßungen in Kenntnis zu setzen. Doch dann verwarf er den Gedanken und beschloss, erst einmal abzuwarten. Am Ende fühlte sich sein Freund dadurch in seiner bisherigen Meinung bestätigt. Was schlimmstenfalls dazu führen konnte, dass er dem Fall nicht mehr die notwendige Aufmerksamkeit widmete.

12
     
     
    Es kam ihr wie eine Ewigkeit vor, bis sie sich an die Oberfläche ihres Bewusstseins gekämpft hatte. Sie hatte von früher geträumt. Wieder einmal. Aber ihr Traum löste sich in Bruchstücke auf und entglitt ihr. Sie versuchte eine Ecke davon zu fassen zu bekommen. Es hatte etwas mit ihrer Kindheit zu tun gehabt. Mit ihren Eltern und einem kleinen Mädchen, das ihre Züge trug. Liebevoll umsorgt und behütet. Der ganze Stolz ihres Vaters. Damals als die Welt – ihre kleine Welt – noch heiter und unbeschwert gewesen war.
    Doch dann wechselte die Stimmung. Wurde dunkel und beklemmend. Schauplatz dieser nächtlichen Begebenheit war ein von kaltem Mondlicht spärlich erhellter Flur. Nackte Füße, die sich auf kaltem Stein vorantasteten. Nur noch ein paar Schritte, dann hatte sie es bis zur Toilette geschafft. Ein in seinem dünnen Nachthemd vor Kälte zitterndes Kind, das sich verzweifelt darum bemühte, den wieder einmal im elterlichen Schlafzimmer tobenden Krieg zu ignorieren. Ihn auszublenden, wie die durch die Tür an sein Ohr dringende Stimme: Hoch und schrill, kurz davor ins Hysterische abzukippen. Die Stimme seiner Mutter. Angeheizt durch den stummen Protest seines Vaters.
    Sie hatte ihm Vorwürfe gemacht: Dass er zu lange arbeiten und sie vernachlässigen würde. Dass für ihn immer erst die Klinik kam, das Wohl seiner Patienten. Um ihr Wohl, das seiner Familie, habe er sich dagegen einen feuchten Kehricht geschert. Von falschem Pflichtbewusstsein war die Rede und davon, dass man es auch übertreiben könne. Je mehr sich ihre Mutter in ihre Rolle hineinsteigerte, desto lauter und schriller wurde ihre Stimme. Bis sie sich am Ende fast überschlug. Für sie, die sie mit vor Scham glühenden Wangen hinter der Tür gelauscht hatte, war jedes ihrer Worte wie eine Ohrfeige gewesen. Was war damals nur mit ihrer heilen Welt passiert? Von wegen Vorzeigefamilie. Alles nur Fassade! Nur dazu da, sich selbst und andere über den wahren Zustand der Ehe hinwegzutäuschen. Aus welchem Grund hätte ihre Mutter sonst so überreagieren sollen? Auch wenn sie noch ein Kind gewesen war, hatten sich deren Vorwürfe falsch und verlogen angehört. Wie konnte ihre Mutter es wagen, den geliebten Vater so zu verunglimpfen. Kein Wunder, dass sie diesen Zwischenfall verdrängt, ihn aus ihrem Gedächtnis ausgeblendet hatte. Genauso wie alles, was nicht in ihre heile Kinderwelt zu passen schien.
    Doch die Erinnerung daran war nicht vergessen, sondern nur verbannt: Verbannt in die hintersten Tiefen ihres Unterbewusstseins, aus denen sie jetzt wie ein Ungeheuer hervorkroch.
    Wie in der nächsten Szene. Diesmal war sie durch ein dumpfes Poltern aus dem Schlaf gerissen worden. Es war bis in ihr Zimmer zu hören gewesen und schwebte wie ein unsichtbares Damoklesschwert über dem Bett. Allgegenwärtig wie die Geister ihrer Kindheit. Da half auch kein Wegsehen. Denn dazu war die Erinnerung zu real. Das alles hatte nichts mit diesen nächtlichen Träumen gemein, die sich spätestens am nächsten Morgen in ein unbedeutendes Nichts auflösten: Sich verflüchtigten, wie das von weit her an ihr Ohr dringende Stöhnen. Das jammervolle Seufzen einer zutiefst gepeinigten Kreatur. Einsam und hilflos wie der Mann, der ihr im nächsten Bild aus rot unterlaufenen Augen vom Fußende der Couch entgegenblickte. Auf dem Boden neben ihm, in einer stinkenden Schnapslache lag eine leere Wodkaflasche.
    An dieser Stelle war sie regelmäßig mit wild klopfendem Herzen aufgeschreckt. Vielleicht, weil sie sich noch immer weigerte, die Bedeutung dieser Szene anzuerkennen. Aber die Realität ließ sich nun mal nicht schönreden. Selbst dann nicht, wenn man sie zu ignorieren versuchte.

13
     
     
    Am nächsten Morgen rief Henning in der Stadtwaldklinik an, um einen Termin mit Doktor Tannert zu vereinbaren.
    Nachdem er fast den ganzen Vormittag auf dessen Rückruf gewartet hatte, ließ ihm der Arzt ausrichten, er sei gegen 14 Uhr in der Krankenhauscafeteria anzutreffen.
    Bei seiner Ankunft nahm der Arzt, der sich ihm als Doktor Tobias Tannert vorstellte, gerade ein

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