Treibhaus der Träume
schwankte. »Wenn wir sie dort …«
»Ja.« Dr. Thorlacht nickte. »Ich kann es noch immer nicht begreifen.«
Unbemerkt, sogar Dicki erfuhr nichts, schaffte man mit dem Lastenaufzug die Leiche von Gertrud Alberts in den Kühlkeller. Den Schlüssel nahm Schwester Emilie an sich.
»Weiter!« sagte Dr. Thorlacht und wusch sich erneut Hände und Unterarme. »Wir sind mit dem Tagesprogramm eine Stunde zurück. Wer kommt dran?«
Der II. Assistent sah auf den Operationsplan. »Rosa Ballek. Zwei kleine Hauttransplantationen.«
»Herein mit dem Turm!« Dr. Thorlacht sah sich um. Betretene Gesichter starrten ihn an. Er kann noch Witze machen, sagten diese stummen Augen. Thorlacht lächelte gequält. »Glauben Sie, mir ist zum Witz zumute?« sagte er leise. »Aber wir müssen uns zusammenreißen, verdammt noch mal! Wir müssen so sein wie jeden Tag. Patienten haben ein feines Gefühl für Dinge, die ungewöhnlich sind. Lächeln, Freunde! Es wird noch genug Zähneklappern auf uns zukommen. Als erstes wird die Staatsanwaltschaft das Haus besetzen …«
Rosa Ballek betrat den OP. Sie war bester Laune wie ein satter Elefant. Nur wenn sie an Dicki und an das Ende der Nacht dachte, mußte sie den Mund verziehen. Es gab keine Männer mehr wie Jan, Fiedje und Stanny. Gegen Morgen hatte sie Mühe gehabt, Dicki aus dem Zimmer zu bringen. Er war wie ein Betrunkener getorkelt und hatte starre Fischaugen. »Bist eben kein Seemann«, hatte sie ihm zugeflüstert. »Salzluft, die geht in die Knochen, Kleiner. Und nu segle ab!«
Der Tag ging weiter. Niemand in der Klinik ahnte von der Tragödie, die sich zwischen 9 und 10 Uhr abgespielt hatte. Kammersänger Tocker saß am Klavier und sang Arien aus dem Troubadour. Dieses Mal beschwerte sich keiner wie bei den Fingerübungen von Valenti. Die Stimme Tockers war überwältigend.
Am Zaun zur Klinik stauten sich die Damen von der Schönheitsfarm. Wo ein Tenor singt, sammeln sich die Frauen wie Motten um ein Licht.
Nur Dicki hatte nichts von diesem Tag. Er hatte sich krank gemeldet. Mit hohlen Augen lag er im Bett, seine Glieder waren bleischwer vor Erschöpfung.
In diesen Stunden hatte er den festen Willen, zu kündigen und weit wegzuziehen und einen Ort zu suchen, wo es keine Frauen gab. Aber wo gibt es einen solchen Ort auf der Welt?
Dicki kannte keinen. Und so blieb er in der ›Almfried-Klinik‹.
Stumm stand Dr. Lorentzen im OP und sah auf die bleiche, ausgestreckte Gestalt von Gertrud Alberts. Das völlig zerstörte, aufgeschnittene Gesicht, die grauenhafte Wunde, die Thorlacht gemacht hatte, um den Infektionsherd zu finden, schrie ihm wie eine Anklage entgegen: Dort hat der Tod gesessen! Dort hat deine Hand versagt! Du hast sie getötet! Eine neue, schöne, gerade Nase wollte sie nur haben. Nun liegt sie da, kalt und steif. Ein Loch, wo einmal ihr schönes Gesicht war. In Stuttgart warten ein Mann und drei Kinder auf sie … sie warten auf eine hübschere, fröhlichere, jüngere Mutti … und sie wird zurückkommen in ihr Haus in einem schmalen Sarg, zugeschraubt, denn niemand soll sie so sehen, wie sie jetzt ist.
Dr. Thorlacht, der zwei Schritte hinter seinem Chef stand, räusperte sich leicht. Lorentzen hob den Kopf.
»Vom Standpunkt des Chirurgen haben Sie richtig gehandelt, Thorlacht«, sagte er tonlos. »Not am Mann, keine Rücksicht mehr. Ausräumen, wo der Herd sein könnte. Alles versuchen. Und wenn man verstümmeln muß. Sie haben klug gehandelt. Aber hier war nichts mehr zu machen. Sepsis im oberen Kopfteil, das ist aussichtslos.« Lorentzen hob die Fäuste und schlug sich damit gegen die Schläfen. Es war ein erschütterndes Bild, das Thorlacht die Kehle zuschnürte. »Aber woher? Woher? Kann jemand steriler arbeiten als ich? So etwas habe ich noch nie gesehen. Das ist auch noch nie aus der Praxis beschrieben worden. Das ist einmalig. Woher hatte sie die Sepsis? Ich kann es nicht begreifen.«
»Was wird nun, Chef?« fragte Thorlacht leise.
»Wir werden uns nicht schonen können, Thorlacht. Ich rufe gleich die Staatsanwaltschaft in München an. Ich werde das Gerichtsmedizinische Institut benachrichtigen. Ich werde Professor Sahrein zur Obduktion bitten. Vor allem müssen wir die Familie benachrichtigen.«
In der Kehle Dr. Thorlachts saß ein dicker Kloß. »Mein Gott – wenn das Heberach erfährt …«, sagte er heiser.
»Er wird es erfahren. Sehr schnell sogar. Professor Sahrein ist ein Studienfreund von ihm.« Lorentzens Stimme schwang in Bitterkeit. Er wandte
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