Treibhaus der Träume
durchdringend an.
»Da haben wir es!« rief er mit seiner hellen Greisenstimme. »Mein Gefühl war richtig! Herren der Sorte Lorentzen sollte man das Handwerk legen! Es ist unverantwortlich, wie sie mit dem guten Ruf gewissenhafter Ärzte umgehen! Sie diskriminieren unseren ganzen Stand! Warum greift das Ehrengericht nicht ein? Aber ich werde die Sache in die Hand nehmen! Ich fühle mich als Chirurg direkt betroffen durch die Stümpereien dieses Herrn dort unten zwischen den Bergen!«
Heberach verschaffte sich viel Zeit, um Lorentzen zu vernichten. Sein Terminkalender war randvoll – er sagte alles ab. Was auf der Kliniktafel als ›Chefoperation‹ stand und auch später als solche in der Rechnung auftauchte, machte der I. Oberarzt. Viele behaupteten: Sogar besser. Nur seine Vorlesungen hielt Heberach in der Universität, dann eilte er zurück in sein großes, leeres Haus, das wie eine prunkvolle Grabkammer wirkte, seitdem seine Tochter gestorben war.
Hier saß er, führte lange Gespräche mit Sahrein in München, informierte sich in Paris und London und schrieb dann einen langen Artikel, den er der ›Ärztlichen Praxis‹ zuschickte.
Es war ein Pamphlet voll Gift und Galle. Aber – und das war gefährlich – auch voll Wissen und messerscharfem Geist. Auf alle wissenschaftlichen Fachausdrücke verzichtete er; er schrieb ›volkstümlich‹, denn er spekulierte darauf, daß auch andere Zeitungen, vor allem die von ihm bisher so verpönten und mit Vulgärausdrücken bedachten Illustrierten diesen Artikel nachdruckten.
Ȇber die Gefahr von Leichtsinn und Unwissen
in der chirurgischen Praxis.«
Eine leider notwendige Dokumentation.
So hieß der Artikel.
Als er der Redaktion des Blattes vorlag, stand man kopf. Der Chefredakteur rief bei Heberach an.
»Sind das alles Tatsachen?« fragte er.
»Glauben Sie, ich schreibe Märchen?« schrie der Alte zurück. »Habe ich angefangen mit: Es war einmal …?«
Es wurde nie geklärt – aber Lorentzen konnte es sich denken – woher die Indiskretion rührte, durch welche die Obduktion an die Öffentlichkeit drang. Drei Münchener Zeitungen, am nächsten Tag neunundvierzig deutsche Tageszeitungen in allen Landen druckten die Meldung ab:
»Tod bei Nasenoperation.
Mutter von drei Kindern an Vergiftung gestorben.«
Dr. Lorentzen las den kurzen, knalligen und dazu unrichtigen Bericht mit einer Art Traurigkeit. Aus verschiedenen Städten quer durch Deutschland riefen ihn Kollegen an und wollten Fragen stellen. Dr. Thorlacht beantwortete sie knapp mit der Feststellung: »Die Berichte in der Presse sind falsch.«
»Du mußt das richtigstellen, Lutz«, sagte Marianne am Mittagstisch. »Es war doch keine Vergiftung. Es war ein Kreislaufversagen. Wer das hier liest, glaubt aber, es sei deine Schuld gewesen. Das geht doch nicht.«
»Soll ich alle Zeitungen anschreiben?« sagte Lorentzen leise. »Soll ich eine Pressekonferenz geben? Die Zeitungen werden dementieren müssen, jawohl … aber sie werden es so tun, daß jeder sagt: Siehste, nun vertuschen sie das. Den Ärzten kommt keiner bei. Die haben für alles eine Ausrede, auch wenn der Kopf abfällt nach einer Zehenoperation. – Nein, Marianne, es wird alles nur schlimmer sein. Das einzige, was ich tun werde, ist die Veröffentlichung des Obduktionsprotokolls in den Fachzeitschriften.«
Was Lorentzen ahnte, als er die ersten Artikel über den Unglücksfall las, traf schon am Nachmittag ein.
Zimmer wurden telefonisch abbestellt. Ohne Erklärung. Nur ein Ehemann, Fabrikant aus Essen, sagte grob: »Lesen Sie die Zeitung und fragen Sie nicht so dumm.« Die Sekretärin, die diese Gespräche annahm, war den Tränen nahe.
Sehr ernst, sehr verlegen, sich räuspernd, als habe er Bronchitis, was für einen Sänger schlimmer ist als Bein- und Armbrüche, kam Kammersänger Arnulf Tocker in das Privatsprechzimmer Dr. Lorentzens. In der Rocktasche stark zusammengefaltet eine Zeitung. Lorentzen brauchte gar nicht zu fragen, was Tocker wollte. Für einen sensiblen Künstler war die Zeitungsnotiz wie der Ausbruch einer Pest.
»Sie wollen auf die Operation Ihrer Säbelbeine verzichten, Herr Kammersänger?« sagte Lorentzen rücksichtslos. »Sie kommen mir damit sehr entgegen. Ich habe eine dringende Operation und bisher kein Bett.«
Arnulf Tocker wurde rot und trommelte mit den Fingern gegen die Hosennaht. »Sie haben mir gesagt, Doktor, daß meine Operation ein Risiko ist …«
»Jede Operation ist ein Risiko. Aber es stimmt, Ihre
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