Treibhaus der Träume
mußte. Das begann schon mit einem Schluck Bittersalz in der Frühe, vor dem Aufstehen. Und setzte sich fort mit dem Morgengetränk aus Schachtelhalmen-Tee, der bekanntlich wassertreibend ist. Denn viele Polster an unserem Körper bestehen zu 80 Prozent aus angesammelter Flüssigkeit.
Dr. Lutz Lorentzen …
Konnte man an nichts anderes mehr denken?
Marianne Steegert öffnete die Tür der Kabine 8.
Erna Pfannenmacher lag auf der Spezialliege. Auf ihrem rundlichen Gesicht klebte die Maske aus Lebertran. Es roch wie auf einem Walfischfänger.
Am Freitag kamen neue weibliche Gäste nach St. Hubert. Die Schauspielerin Lydia Bora. Eine Fabrikantengattin Eva Hellwarth. Und ein Mädchen, das einen großen amerikanischen Wagen fuhr und sogar den jetzt dauermüden ›Dicki‹ etwas munterer werden ließ. Sie hieß Marion Stellmacher, hatte schwarze Haare bis auf die Hüften und trippelte ins Haus in einem rosafarbenen, schwingenden Minikleid.
Die Damen, die zum Mittagessen im großen Speisesaal Platz genommen hatten und auf ihre Müsli, ihren Lauchsalat und Quarktrunk mit Möhrensaft warteten wie ausgehungerte Raubtiere, verstummten sofort, als Marion Stellmacher hereinschwebte und an einem Tisch Platz nahm, den Marianne Steegert ihr zuwies.
»Eigentlich schamlos«, sagte ausgerechnet Gisela Nitze zu ihrer Tischnachbarin, einer stupsnäsigen Buchhändlerin. »Schauen Sie bloß. Wenn man sitzt, kann man den Schlüpferansatz sehen.«
»Man braucht ja nicht untern Tisch zu kriechen«, sagte die Buchhändlerin. »Wer es tragen kann, wer so schöne, lange Beine hat …«
»Ordinär!« Frau Nitze, die nachts herumschlich und Männer suchte, vertiefte sich in ihre Suppe, eine Buttermilchkaltschale mit Mandeln und Knusperflocken. »Irgendwo ist eine Grenze.«
Am Nachmittag bereits stand eine Abordnung der Damen im Büro Mariannes. Die Frauen waren empört, hatten gerötete Gesichter und hochgezogene Augenbrauen. Wortführerin war allerdings nicht Frau Nitze; sie hatte die Gattin eines Architekten aus München vorgeschickt.
»Wissen Sie, wer da auf Ihre Farm gekommen ist?« fragte Frau Maiselhans. Ihre Stimme zitterte vor Empörung. »Wer … wer diese Marion Stellmacher ist?«
»Eine Patientin wie Sie, meine Damen.« Marianne lehnte sich zurück. »Sie hat wie Sie eine Woche im voraus bezahlt.«
»Es ist doch wohl vermessen, uns mit dieser … dieser Person zu vergleichen.«
»Wieso? Was hat Fräulein Stellmacher Ihnen getan?«
»Es ist nicht auszudenken, was sie vielleicht schon mit unseren Männern getan hat.« Frau Maiselhans aus München schöpfte tief Luft. »Ich habe sie sofort wiedererkannt, als sie zum Mittagessen hereinkam. Das ist doch nicht möglich, habe ich gedacht. Aber sie war es. Viermal habe ich sie zufällig gesehen … nachts … auf der Straße …«
»Pfui!« rief Frau Nitze. Marianne lächelte etwas schief.
»Sie hätten mich aus Zufall auch manchmal nachts auf der Straße sehen können, Frau Maiselhans.«
»Aber nicht in einem offenen Wagen … auf Männerfang … gegen Bezahlung … Sie wissen, was ich meine.«
»Ich kann es mir denken. Aber davon ist mir nichts bekannt. Ich frage meine Patientinnen nicht, woher sie ihr Geld haben, um sich bei mir behandeln zu lassen.«
»Sie ist eine Dirne!« rief Frau Nitze aus dem Hintergrund erneut. »Eine zweite Nitribitt! Haben Sie den Wagen gesehen? Dieses Schiff? Alles auf der Couch verdient!«
»Manche Frauen tun es umsonst.« Marianne erhob sich abrupt. Frau Nitze war rot geworden und schwieg. Frau Maiselhans atmete in ehrlicher Empörung schnaufend durch die Nase. Sie war erst vier Tage hier und kannte nicht die Ausflüge von Gisela Nitze. »Um es klarzustellen: Fräulein Stellmacher ist Gast wie jeder von Ihnen. Das Privatleben interessiert mich nicht. Zu mir kommen die Damen, um sich zu erholen und schöner zu werden.«
»Damen –«, sagte Frau Maiselhans gedehnt.
»Wer glaubt, mit Fräulein Stellmacher nicht unter einem Dach wohnen zu können: Bitte, ich nehme Abbruchbitten der Kurgäste an. Ich weigere mich aber, jemanden aus dem Haus zu weisen, solange er sich bei mir anständig benimmt. Ist das klar, meine Damen?«
»Ganz klar.« Frau Maiselhans sah sich kampfeslustig zu ihren Freundinnen um. »Ich kündige die Kur.« Dann wartete sie darauf, daß die anderen ebenfalls kündigten, aber nichts geschah. Im Augenblick des Knallens ist der Tapfere meistens allein. Verwirrt wandte sich Frau Maiselhans um.
»Gut.« Marianne zog die
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