Treibhaus der Träume
schon nach St. Hubert gefahren und hatte beim Dorfbarbier dieses Rasiermesserwetzgerät besorgen müssen. Drei Stunden lang war es dann sterilisiert worden. Schwester Ottilie nahm es stumm hin. Sie glaubte an einen üblen Scherz des Chefs. Chirurgen sind oft solche Witzbolde.
»Wenn Sie dieses Gesicht sehen, dann denken Sie sicherlich: Armer Kerl. Da hilft nur eine lange Transplantation von Rundstiellappen. Das habe ich zuerst auch gedacht. Aber dann habe ich mich doch entschlossen, die Hynes-Methode anzuwenden. ›Shaving of the Scar and Skingraft‹ nennt er sie. Ottilie, das Rasiermesser! Ist es gut abgestrichen?« Er griff nach dem Rasiermesser, nahm den Streichriemen und zog die Klinge ein paarmal hin und her, wie ein Friseur kurz vor der Rasur. Dann prüfte er mit dem Daumen die Schärfe und nickte. Die beiden Assistenzärzte hatten starre Mienen. Der wird doch wohl nicht mit einem Rasiermesser … dachten sie erschrocken. Das ist ja verrückt …
Dr. Lorentzen beugte sich über das narbenzerfurchte Gesicht. »Tampons bereithalten«, sagte er. »Clauden in der Nähe.«
»Alles da, Herr Doktor.«
»Ich rasiere jetzt die Narben mitsamt der Haut ab«, sagte Lorentzen deutlich. »Ich nehme die oberen Schichten parallel zur Oberfläche weg. Es bleibt also noch ein Rest stehen. Ich habe damit einen künstlichen Defekt gesetzt. In dieses Wundbett pflanze ich das Hauttransplantat ein. Lüders, bereiten Sie die Hautentnahme von der linken Oberschenkelinnenseite vor … es muß jetzt Hand in Hand gehen …«
Der I. Assistent nickte stumm. Die Oberschenkelpartie des ›Grafen‹ wurde aufgedeckt. Die II. OP-Schwester reinigte die Hautpartien mit Alkohol. Der II. Assistent rollte einen elektrischen Apparat heran, der wie ein Elektrorasierer aussah. Das Dermatom. Das Gerät, mit dem man jeden gewünschten Hautlappen, so groß und so dick oder dünn man will, abrasieren kann.
»Also, dann wollen wir mal!« Dr. Lorentzen setzte das Rasiermesser an. Schon der erste Schnitt trennte eine dicke, zackige Narbe ab. Blut quoll aus der Wunde … der I. Assistent tupfte es ab mit den Tampons, die mit einer blutstillenden und desinfizierenden Substanz getränkt waren.
Ruhig rasierte Lorentzen die rechte Gesichtshälfte des ›Grafen‹ ab. Er beschränkte sich zunächst auf die großen, wulstigen Narben und auf die Narbe, die den Mundwinkel so schrecklich hochzog. Die Hautpartien, die von der Säure weniger zerfressen waren und ein Feld kleiner, zusammengeschrumpfter Narben bildeten, umging er. Hier würde man die zweite Operation ansetzen, wenn man gesehen hatte, ob die freie Hauttransplantation gelungen war. Später dann, wenn die Haut eingewachsen war, wenn sie normal durchblutet wurde, was Lorentzen innerlich wie ein Gebet erflehte, sollte das ganze Gesicht noch einmal geschliffen werden, so wie er es bei Ursula Fohrbeck getan hatte. Aber darüber konnte ein Jahr vergehen … wenn diese Operation gelang.
Mit dem Dermatom rasierte Lorentzen nun aus der Innenseite des Oberschenkels die Hautscheibchen heraus, die er zur Deckung der künstlichen Wunden brauchte. Auch dieses Abrasieren war eine Kunst für sich: Die Haut, die er brauchte, mußte die gesamte Epidermis und einen guten Teil der Cutis enthalten. Sie mußte an den Rändern dünn sein und zur Mitte hin, wo einmal die aufliegende Narbe war, dicker werden. Ein winziger Hauthügel mußte also abgetragen werden.
Es gelang. Lorentzen, der diese Operation zum letztenmal vor zwei Jahren in Paris gemacht hatte, wunderte sich fast selbst, wie feinfühlig seine Finger reagierten. Er faßte den abrasierten Hautlappen mit einer Pinzette und übertrug ihn auf den noch immer blutenden Defekt. Auch das war wichtig. Blut, die offene Wunde, die vom Serum umspült wurde, ist der beste Nährboden für ein Transplantat. Leben kommt auf Leben … und die Natur versteht den Wink.
Über eine Stunde arbeiteten die Ärzte. Kaum ein Wort fiel. Die Stille wurde nur ab und zu unterbrochen, wenn Lorentzen auf dem Friseur-Streichriemen ein neues Rasiermesser auswetzte. Dann schüttelte Schwester Ottilie immer wieder den Kopf.
»Eine barbarische Methode«, sagte sie.
»Aber noch immer die wirksamste.« Dr. Lorentzen deckte den letzten künstlichen Defekt zu. »Wissen Sie, wie der bekannte Chirurg Joseph einmal ein Rhinophym, eine sogenannte Knollennase, operierte? Auch er nahm einfach ein Rasiermesser und schnitt daran herum wie an einer Kartoffel; bis er die Nase schön klein geschnitzt hatte.
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