Treibland
Dasein zu entlassen. Sie tat dies, indem sie beobachtete, durch altmodisches und immer noch ertragreiches Hinterherlaufen und Hinterherfahren. Bei manchen konnte sie mehr herausfinden, indem sie ihnen auf Twitter folgte oder sich mit ihnen bei Facebook befreundete. Kenwick also beschäftigte sich in der ihm verbleibenden Zeit mit Geocaching. Die Senyora war fasziniert, aber manchmal auch deprimiert von all dem, was sie im Zuge ihrer Beschäftigung über das Leben der Menschen und die sich verändernden Sitten herausfand. Dass Erwachsene sinnlose Dinge versteckten, damit andere sie mit Hilfe geographischer Hinweise fanden, hatte sie zuerst als lächerlich verworfen, dann aber festgestellt, wie unglaublich einfach sie es in diesem Fall für ihre Zwecke entfremden und nutzen konnte.
Nachdem ihre Entscheidung für eine Tötungsmethode gefallen war, hatte die Senyora nur noch wählen müssen zwischen einer Rolle als niedergeschlagene, leicht ungeduldige Besucherin oder einer als erfahrene, aber erschöpfte Reinigungskraft des Royal-Victoria-Krankenhauses. Dieses Krankenhaus grenzte an die medizinische Lehrfakultät, in deren virologischen Labors Kenwick seiner Arbeit und seinen Geschäften nachging. Ein Komplex aus ineinander übergehenden grau-braunen Universitäts- und Krankenhausgebäuden aus den frühen siebziger Jahren, deren einziger Schmuck in regelmäßigen Abständen gekieselte Betonplatten und bronzefarben reflektierende Fensterscheiben waren. Die Labors waren im Inneren des Komplexes versteckt, von außen unsichtbar, ohne Fenster, aber in Luftlinie nur wenige hundert Meter von ihr entfernt. Sie hatte sich für die Rolle der Wartenden entschieden: eine ältere, nicht unattraktive Frau mit streng zurückgebundenem Haar, hellbraunem Hosenanzug und fliederfarbenem Rollkragenpullover aus leichter Baumwolle. Einwanderin der ersten Generation, die Sonnenbrille etwas zu groß und mit goldenem Logo eines südeuropäischen Modelabels. Ihr Mann hatte sich hier ein Zahnimplantat einsetzen lassen, und sie war nervös, weil sie nicht jedes Wort davon verstanden hatte, was man ihr erzählt hatte über die Risiken der Vollnarkose und darüber, was der National Health Service noch übernahm und was sie würden bezahlen müssen. Er hatte eine kleine Dachdeckerei auf dem Land Richtung Osten, Langley Park, Witton Gilbert, und das Geld reichte gerade, um die beiden Kinder auf eine der soliden Universitäten in Mittelengland zu schicken. Ihr Mann lag im Aufwachraum, und sie war nur kurz hier auf den Parkplatz gegangen, um eine Zigarette zu rauchen und dann noch eine, Silk Cut, eine Marke von hier und eine Angewohnheit aus der Heimat.
Die Senyora rauchte und machte ein Gesicht, als bedeutete es ihr etwas. Es war ein Segen, dass überall das Rauchen verboten war. Vor dreißig Jahren, als sie angefangen hatte, hätte sich jeder bei ihrem Anblick gefragt: Warum steht die Frau hier in der Frühlingskälte und raucht, wo sie doch genauso gut drinnen, ein paar Schritte vom Aufwachraum, so viel rauchen kann, wie sie will? Wer sich heute unsichtbar machen wollte, musste sich nur an eine Ecke, in einen Hauseingang oder auf einen Parkplatz stellen und sich eine anstecken. Unsichtbar wurde man, indem die, die an einem vorbeigingen und einen sahen, einen in eine Kategorie ablegen konnten, die sie nicht weiter interessierte. Südländische Frau Mitte fünfzig steht da und raucht: uninteressant.
Dann geschah, wonach sie sich insgeheim sehnte. Weniger Kenwicks Anblick an sich, sein schütteres rotblondes Haar, der unentschlossene Bart, der offenbar aufwendig trainierte Körper und die trotzdem hängenden Wangen, der schnelle, aber nicht ganz gerade Schritt, die unauffällige Funktionskleidung. Mehr das, was dieser Anblick bei ihr auslöste: der Startschuss, den die Mittelstreckenläufer hören, der Blick, den zwei sich zuwerfen, die wissen, dass sie zum ersten Mal die Nacht miteinander verbringen werden.
Sie rauchte und blickte ins Leere, das Gesichtsfeld weit. Kenwick lief weniger als zwei Meter an ihr vorbei. Sie wusste, dass er in der Apartmentanlage wohnte, die jenseits einer etwa einen halben Kilometer breiten Wiese lag. Es war ein Umweg, aber gestern hatte er den Weg durch den Park genommen, der sich zwischen dieser Wiese und dem Gelände der Universität erstreckte. Auf diesen Park setzte sie wie auf einen neuen Freund. Der Park war außerordentlich hübsch und schlecht besucht: vielleicht ein paar alte Damen, die auf Bänken am Bootssee
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