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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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den Maschinenraum hätte anweisen können, «volle Kraft voraus» zu geben, falls sie mit dem Maschinenraum verbunden gewesen wären. Kompasse, Seekarten und so weiter. Wegen ihres überbordenden Dekors und ihrer lautstarken Mittelmäßigkeit war die Bar nicht besonders beliebt, deshalb konnte er hier in Ruhe über sich und seine Mitreisenden nachdenken. Außerdem fand er, dass der Name zu ihm passte: Klabautermann, der Kobold, der übers Schiff geistert, um der Mannschaft und den Passagieren den nahen Untergang zu prophezeien. Bisher verhielt er sich eher unauffällig, aber er fand, dass dies dennoch in etwa seiner Rolle an Bord entsprach.
    Einige Hocker weiter von ihm an der Bar saß eine Frau Ende sechzig, mit kurzen grau-blonden Haaren und einer großen Gleitsichtbrille und trank wie er das Wasser aus der Plastikflasche. Sie setzte ab, lächelte ein wenig in seine Richtung und sagte «Prost!», bevor sie die Flasche wieder an den Mund setzte.
    «Prost!», sagte Danowski und merkte, wie unbenutzt seine Stimme war. Er sah, dass sie rauchte. Niemand an Bord hielt sich mehr an die Rauchverbote, außer, sie wurden von Nichtrauchern aggressiv durchgesetzt. «Schade, dass das kein Wodka ist», fügte er hinzu, wo er gerade dabei war.
    «Oder Gin», sagte die Frau.
    «Oder Rum», sagte Danowski und musste an Finzi denken. Warum kam der eigentlich nicht an Bord? Warum besuchte ihn niemand? Finzi war der Einzige, von dem er das erwartet hätte. Leslie und die Kinder wollte er sich hier gar nicht vorstellen; je weiter sie vom Schiff entfernt waren, desto besser. Und dass den anderen Kollegen der bürokratische Aufwand und die schwer abschätzbare Gefahr zu groß war, konnte er noch verstehen. Aber Finzi? Hat der dem Tod nicht fest genug ins Gesicht geschaut, um sich von einem Virus nicht beeindrucken zu lassen?
    «Dann wäre auch die Dekoration hier leichter zu ertragen», sagte sie und schwenkte ihre Plastikflasche im Halbkreis. Danowski nickte.
    «Klabautermann», sagte er. «Gruselig halt.»
    «Wissen Sie, was das ist, ein Klabautermann?», fragte sie. Danowski nickte wieder und trank, aber in der erprobten Art älterer Menschen, die beschlossen hatten, etwas mitzuteilen, fuhr sie fort: «Früher hat man gesagt, dass der Klabautermann die Seele eines toten Kindes ist.» Sie rauchte und sah ihn an. Obwohl es helllichter Vormittag war, fasste etwas Danowski kalt ans Herz. Tote Kinder gehörten nicht zu seinen bevorzugten Gesprächsthemen, und obwohl ihm seine neue Bekannte nicht unsympathisch war, hatte es etwas Unheimliches, aus dem Mund einer Fremden im Small Talk die Worte «Seele eines toten Kindes» zu hören.
    «Aha», sagte er und merkte, wie sie in seinem Gesichtsausdruck las, dass sie etwas wusste, was er nicht wusste. Mit einem leichten Einschlag von Triumph in der Stimme fuhr sie fort: «Eine tote Kinderseele, die in einen Baum gefahren ist. Weil das Kind unter ihm begraben liegt oder dort gestorben ist. Und wenn aus dem Holz dieses Baumes ein Schiff gebaut wird, dann hat es einen Klabautermann an Bord.»
    Danowski trank sein Wasser langsam und nachdenklich, als wäre es wirklich so was wie Wodka.
    «Nur eine Überlieferung», sagte sie tröstend.
    «Gut, dass dieses Schiff nicht aus Holz ist», sagte er. Sie sagte etwas über die Planken auf dem Oberdeck, aber er versank in dem Gedanken, ob er auf eine Art der Klabautermann jener Kinderseele war, die mit seiner Mutter gestorben war. Als er festgestellt hatte, dass dies selbstmitleidiger und unlogischer Quatsch war, hatte er so lange geschwiegen, dass seine neue Bekannte aufgestanden und gegangen war.
     
    Danowski war es gewöhnt, Menschen in Gruppen einzuteilen. Es war ein Reflex, ausgelöst, um Situationen einfacher überblicken zu können, um Verhaltensweisen zu erklären und Entwicklungen zumindest vage einschätzen zu können. Gleichzeitig war er daran gewöhnt, diesem Reflex jedes Mal aufs Neue zu widerstehen und zu versuchen, die einzelnen Menschen, mit denen er in seinem Beruf zu tun hatte, zweimal zu betrachten: einmal als Teil einer Gruppe, und einmal davon losgelöst. Die zweite Betrachtungsweise war immer wertvoller als die erste, das wusste er. Aber er wusste auch, dass die erste immer überzeugender war als die zweite. Darum fiel es ihm schwer, die Menschen an Bord der « MS  Große Freiheit» nicht als eine Gruppe zu betrachten. Und wenn er sie vormittags bei der Wasser- und Essensausgabe, bei der obligatorischen

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