Bücher online kostenlos Kostenlos Online Lesen
Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
Vom Netzwerk:
was die anderen ihr anboten, das Material kam immer von den zu Betreuenden selbst. Kenwick brachte einen unerschöpflichen Vorrat an Einsamkeit mit auf die Party.
    Sie hörte, dass er ihr folgte, weil seine Schritte nicht mehr über den Sandweg knirschten. Sie spürte, wie er aufschloss zu ihr, neugierig jetzt, in jedem Falle hilfsbereit. Sie wusste es zu schätzen: Teil ihrer Kunst war, jede Hilfe anzunehmen, die man ihr anbot, absichtlich oder ohne es zu merken.
    Als sie in den Schatten der Ruinenmauer getreten waren, sah sie an seinen Pupillen, dass er sich erst an den Halbschatten gewöhnen musste. Sie hatte zwei, drei Sekunden länger Gelegenheit gehabt, sich damit vertraut zu machen. Nicht mehr als genug, sondern genau genug. Als er sich halb umwandte, instinktiv, um seine Umgebung in den neuen Lichtverhältnissen zu prüfen, war sie bereits die vier Stufen einer kleinen, inzwischen sinnlosen Steintreppe hinaufgestiegen. Bevor er sich wieder umgedreht hatte, nahm sie in ein und derselben Bewegung einen etwa fünfzehn Kilo schweren Stein-und-Mörtel-Brocken, der vor langer Zeit vom unteren Dachrand hier heruntergefallen war, und schlug Kenwick diesen Stein über den Kopf, mit einer perfekten Körperdrehung, die bestmöglich ihr eigenes Gewicht und ihre leicht erhabene Position ausnutzte.
    Sie merkte an der haptischen Antwort des Steines und am charakteristischen Geräusch, dass sie Kenwick den Schädel gebrochen hatte. Er sackte ins Halbdunkel und fiel zu Boden.
    Weil sie das Schwerste immer zuerst tat, hielt sie Kenwick etwa zwei Minuten den Mund und die Nase zu, bis er erstickt war. Dann platzierte sie den Brocken aus Stein und Mörtel mit geübter Lässigkeit so auf und neben seinem Schädel, als wäre er vom Dach gefallen und hätte ihn erschlagen.
    Sie zog ein Paar dünne Handschuhe über und fingerte Kenwicks iPhone aus seiner Anoraktasche. Sie aktivierte seine Twitter-App und schrieb: Best things are sometimes so very close: just found the perfect spot for a cache on my way home from work. Expect more soon! #northeastcache . 140  Zeichen, das entsprach genau seinem Perfektionismus und seiner Pedanterie. Dann schob sie das Telefon wieder in seine Tasche.
    Aus ihrer eigenen holte sie eine kleine Tupperdose, in der ein Radiergummi in Form eines Hamburgers war. Sie hatte recherchiert, dass die Caches von Kenwick nicht für Geschmack oder Anspruch bekannt waren, sondern allein für ihre naheliegenden, aber schwer zu findenden Verstecke. Sie legte die Tupperdose ins Laub, in die Nähe seiner blassen Hand.
    Auf dem Weg zurück durch den Park war sie in Gedanken bereits bei ihrer Reiseplanung. Sie hatte ein Ticket nach Amsterdam, dort würde sie im Hotel Mercure am Flughafen Schiphol auf weitere Anweisungen warten. Dann zwei Anschlussflüge, von denen sie nur einen wahrnehmen würde: den nach Palma de Mallorca oder den nach Hamburg-Fuhlsbüttel. Die Anweisungen ihrer Kunden waren klar: Falls sie den nach Palma nehmen würde, hieße das schlafen. Falls sie den nach Hamburg nehmen würde, müsste sie einen Polizisten beobachten, der ihrem Kunden unangenehm aufgefallen war. Weil der Polizist einen Brief geschrieben hatte, der an etwas in der Vergangenheit erinnerte, woran ihr Auftraggeber keine Erinnerung wünschte. Sie hatte eine Kopie des Schreibens da, als Handschriftenprobe, denn sie sah sich immer die Schrift derer an, um die sie sich kümmern sollte. Vielleicht würde es reichen, diesen Polizisten zu beobachten, um herauszufinden, über wie viele Informationen er wirklich verfügte; vielleicht musste sie aber auch mehr tun. Sie sorgte sich nicht darum, denn für sie gehörte das eine ebenso zum Beruf wie das andere.

30 . Kapitel
    Die meisten Vormittage hatte Danowski im Bett verbracht, die Plastikflasche mit einem Rest Wasser auf dem Nachttisch, daneben die Beruhigungstabletten, die er bei Kathrin Lorsch gestohlen hatte. Er war froh, wenn er übers Hadern mit der Versuchung wieder einschlief, unruhig und flach, bis die Klimaanlage wieder ausging und er kurz vor Mittag in seinem eigenen Atem aufwachte.
    Aber nach ein paar Tagen war er ausgeschlafen, tiefer und grundsätzlicher denn je. Morgens um fünf, halb sechs stand er auf dem Oberdeck und sah zu, wie die Sonne über Hamburg aufging. Das Licht über den Dächern der Hafencity und des Großmarktes stach ihm im flachen Winkel in die Augen, und er war dankbar für die klare Frühlingskälte in der Luft, weil es sich lebendig anfühlte, sie tief und tiefer

Weitere Kostenlose Bücher