Treibland
biologischen Kriterien. Die ganz jungen Paare vermutlich, weil sie es nicht besser wussten und im Rahmen ihrer wirtschaftlichen Möglichkeiten einfach ihrem Drang gefolgt waren, «mal eine Kreuzfahrt zu machen», und das war dann dabei herausgekommen: Helgoland, irgendwas Britisches und Amsterdam, irgendeine relativ sinnlose Nordseepampe, und dann in einem Boot mit diesen ganzen Losern hier. Er sah diesen jungen Paaren förmlich an, wie sie sich auf der Kreuzfahrt immer wieder gefragt hatten: Ist das hier das ganz normale Erwachsenenleben oder eher die B-Variante davon?
Am frühen Abend, wenn wieder Essen ausgegeben wurde und er keinen Appetit hatte, setzte er sich in die dann fast leere Disco «Hamburger Berg», weit entfernt von der Tanzfläche und den paar dort herumpurzelnden Kindern, in einen der blau-grünen Sessel ans Panoramafenster und blickte auf den Hafen und die Elbe. Die Möbel standen aufdringlich eng, nie weniger als vier Sessel zusammen, sodass er mühevoll seinen Platz zurechtwuchten musste.
Die Familien taten ihm leid. Seltsamerweise machte er sich keine Sorgen um die Kinder: Das, was er an Carsten Lorsch gesehen hatte, passte in seinem für Grausamkeiten am Ende nur begrenzt aufnahmefähigen Geist nicht zur Unangreifbarkeit des Kindlichen an sich. Es reichte, dass er jedes Mal, wenn er ein Kind weinen hörte, einen Kloß im Hals hatte. Nicht, weil er so viel Mitleid gehabt hätte mit den Eltern, die sich, gefangen in dieser Situation, in mittlerer Hilflosigkeit ergeben mussten. Auch nicht, weil die gelangweilten, müden oder hungrigen Kinder ihm leidgetan hatten. Es war wie immer nur, dass er seine eigenen vermisste.
Und spätestens dann forderte ihn irgendein Vater mehr oder weniger freundlich auf zu verschwinden, denn einer, der mit sehnsüchtigem Gesichtsausdruck am Rande saß, wo Kinder spielten, war nirgends gern gesehen.
29 . Kapitel
Die Senyora wartete auf dem Parkplatz hinter der Zahnklinik an der Newcastle University. Endlich war der Anruf gekommen, endlich hatten sie sie aufgeweckt, und sofort hatte sich ihr diese intensivere Art zu leben wieder angeschmiegt: Sie ging auf in ihrem Beruf, in jeder Hinsicht, sie verausgabte sich und öffnete sich, sie war frei und sah die Welt. Von Palma de Mallorca über Paris nach Newcastle, hier der erste Auftrag, und dann morgen vielleicht sogar weiter nach Hamburg, denn der freundliche Rocker am Telefon hatte von möglicherweise zwei Betreuungen gesprochen. Den Namen ihres Gesprächspartners kannte sie nicht, und «Rocker» nannte sie ihn für sich, weil sie wusste, dass er als Mitglied eines international tätigen Motorradclubs derlei Geschäfte im Auftrag interessierter Dritter abwickelte.
Im Grunde war dies jetzt die größte und vielleicht sogar einzige Herausforderung bei der ihr bevorstehenden Aufgabe: etwa eine halbe Stunde auf eine Art und Weise auf oder in der Nähe dieses Parkplatzes zu warten, ohne dass sie so aussah, als gehörte sie nicht hierher.
Kenwick hatte den Parkplatz gestern zwischen neunzehn Uhr und neunzehn Uhr dreißig zu Fuß überquert, und da sie beobachtet hatte, dass er ein Mensch mit festen Gewohnheiten war, ging sie davon aus, dass er heute zur selben Zeit denselben Weg nehmen würde. Es gab aber auch die Möglichkeit, dass er heute an einer Versuchsreihe saß, deren Ergebnisse vielleicht erst später vorlagen oder deren Auswertung mehr Zeit erforderte. Es konnte sein, dass er direkt nach seiner Arbeit eine Verabredung hatte. Möglicherweise musste er Studenten beraten. Aber die Senyora kannte sich aus mit einsamen Menschen. Die meisten der ihr zur Betreuung anvertrauten waren einsam, und einsame Menschen hatten selten Grund, von ihrer Routine abzuweichen.
James Kenwick war so stark vom vorgezeichneten Pfad seiner beruflichen Entwicklung abgewichen, dass es ihr unwahrscheinlich schien, er könnte noch an aufwendigen, eine normale Routine durcheinanderbringenden Versuchsreihen arbeiten. Kenwick war enttäuscht, frustriert, kriminell und einsam, und wer in jedem dieser vier Quadranten des menschlichen Versagens zu Hause war, hielt sich gern an Routinen fest.
Das Einzige, was Kenwick tat, außer kriminell und einsam zu sein, war seine kindische Beschäftigung mit dem Verstecken und Finden von Dingen. Die Senyora betrachtete es als das Geheimnis ihres Erfolges, dass sie die ihr Anvertrauten studierte und ihr Leben lernte wie eine neue Sprache, bevor sie die beste Methode entwickelte, um sie aus ihrem irdischen
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