Treibland
Informationen zusammenliefen. Wahrscheinlich stach in diesem Fall Virenkenntnis den Geheimhaltungsdrang seiner Kollegen. Das konnte Behling nicht gefallen, umso besser. Er las weiter.
Ich erreiche Sie gerade nicht telefonisch, darum dies kurz per Fax: Nach Auskunft Ihrer Kollegen ist das Ergebnis vage und juristisch vermutlich nicht haltbar, aber es gibt wohl eine sehr wahrscheinliche Übereinstimmung von Fingerabdrücken auf dem Magneten und der Ampulle. Das sollten Sie wissen, falls Sie Simone Bender begegnen. Da sie engen Kontakt zu Carsten Lorsch gehabt hat, ist sie aus meiner Sicht mit größter Wahrscheinlichkeit ebenfalls infiziert und daher für Sie ein hochriskanter Kontakt.
Danowski setzte sich aufs Bett und legte das Fax neben sich. Das Schlimmste an seiner Innenkabine war nicht, dass er keinen Blick auf die Stadt und die Elbe hatte, sondern dass er auf das Deckenlicht angewiesen war, das immer wieder ausfiel, sobald es Probleme mit der Stromversorgung gab. Zum Beispiel jetzt. Von einem Moment auf den anderen war es dunkel in der Kabine, und ihm blieb nur das bisschen Licht, das unter der Tür hindurchfiel. Er tastete über das Bett, bis er den Kissenbezug in der Hand hatte, den er einem seiner ersten Angreifer vom Kopf gezogen hatte.
Vermutlich konnte Simone Bender vieles oder alles von dem erklären, was sich in der Kabine von Carsten Lorsch abgespielt hatte, bevor und als er mit dem Virus infiziert wurde. Gleichzeitig war es gefährlicher denn je für ihn, sie zu suchen und womöglich zu finden. Wegen des Virus. Und weil verschiedene Leute an Bord des Schiffes versuchten, ihn daran zu hindern, nach ihr zu suchen. Leute aus mindestens zwei Gruppen: die Maskierten einerseits und die schamlos Offenen andererseits, jene, die sich ihrer Macht an Bord so gewiss waren, dass sie sich nicht verbergen mussten.
Die Gruppe der schamlos Offenen, die ihn zuletzt besucht hatte, schien ihm nicht unbedingt in Kontakt mit der ersten zu stehen, sonst hätten sie drohend von seinem Treppensturz gesprochen. Zugleich hatten die Maskierten kein Ziel formuliert, als sie ihn angegriffen hatten.
Die Dunkelheit reichte ihm, um in eine Art Trance zu gleiten. Er ließ sich nach hinten fallen und schloss die Augen, was kaum etwas änderte an den Lichtverhältnissen. Er meinte, die abgestandene Luft in seiner Kabine zu riechen, aber wahrscheinlich lernte er nur die Oberdecke genauer kennen. Nach einer Weile war da noch mehr. Eine subtile, dabei aber doch bemerkenswert aufdringliche Mischung aus Energydrink, Scheibenwischwasserfrostschutzmittel und Campino-Bonbons. Er überwand sich und nahm im Dunklen den erbeuteten Kopfkissenbezug zur Nase.
An dem Nachmittag, an dem er frei genug gewesen war, um einen Mann, der von diesem Schiff fliehen wollte, auf dem Parkplatz zu Boden zu reißen, hatte er den gleichen Geruch wahrgenommen. Das eklige Textil riss er sich vom Gesicht und warf es in die Dunkelheit, aber lächeln musste er doch: über die Ironie, dass er sich im dunklen Festsitzen nach der Freiheit sehnte, die er verspürt hatte, als er einem anderen dessen Freiheit nahm; und weil er erleichtert war, dass zumindest der erste Angriff vergleichsweise harmlos zu erklären war. Offenbar ein etwas aus dem Ruder gelaufener Racheakt auf der unmittelbar körperlichen Ebene: der Typ, den er vorm Schiff zu Boden gerissen hatte, hatte ihn mit zwei Helfern die Treppe runtergestoßen. Scheiß auf die andere Wange und so weiter.
Seine Gedanken drifteten ab, und er nahm es als Anzeichen einer Erleichterung: Jetzt, wo wer auch immer ihn zu weit getrieben hatte und Danowski beschlossen hatte, sich nicht kleinkriegen zu lassen, konnte er sich zum ersten Mal hier an Bord entspannen. Zugleich aber, da er den Geruch des Kopfkissenbezugs erkannt hatte, erinnerte er sich an einen anderen, der ihm in der Nase lag wie ein Wort auf der Zunge.
Zuerst an den von Kristina Ehlers, Zigaretten, Rotwein und zu wenig Schlaf, und er fragte sich, ob sie gerade noch lebte und, wenn ja, wie.
Kräutertee und lange Nächte im Labor: das war Tülin Schelzig, die er langsam für seine einzige Verbündete zu halten begann. Vielleicht würde sie ihm sogar ein Ladegerät besorgen. Sein Privattelefon hatte noch einen Balken Ladung auf dem archaischen Display, das Diensthandy war tot. Dass Schelzig ihm ein Fax geschickt hatte mit der Information, für die die Bürokraten vielleicht noch Tage gebraucht hätten, war einerseits hilfreich und schlau, andererseits dumm und
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