Treibland
Mordopfer gefühlt hatten, als ihnen klargeworden war, dass ihnen jemand das Leben nehmen wollte und dass es wenig gab, was sie dieser Entschlossenheit entgegenzusetzen hatten. Was war Todesangst? Hatte er Todesangst, als er feststellte, dass er keinen Ausweg aus seinem Kellerverschlag hatte, der nicht an der fremden Frau vorbeiführte? Als ihm klarwurde, dass er kämpfen musste, sobald er sich nicht länger verstecken konnte? Aus Erfahrung wusste er, dass der Mörder immer im Vorteil war. Zwar war es schwierig, anstrengend und aufwendig, einen Menschen zu töten, aber wer einmal den Plan gefasst und sich eine Waffe beschafft hatte, hatte immer den Vorteil, eine konkrete Absicht zu verfolgen. Während es doch, wie er jetzt feststellte, eher unspezifisch war, nicht sterben zu wollen. Wie stellte man das an? Wie und wogegen sollte er sich wehren?
Todesangst? Viel mehr als das spürte Finzi eine Art Todesratlosigkeit.
Die Schritte im Gang waren verstummt. Die Frau stand außerhalb seines eingeschränkten Blickfelds, das im Moment nur aus einem Regalvorsprung, einigen Kisten und dem schwarzen Kreuz des kleinen Kellerfensters bestand. Er hatte nichts bei sich, nur eine Thermoskanne mit grünem Tee, der sich nicht als Waffe eignete, weil man das Wasser dummerweise auf fünfzig Grad herunterkühlen ließ, bevor man ihn aufgoss. Ein Handy, das hier unten keinen Empfang hatte. Nicht einmal mehr einen Gürtel. Er trug zu Hause keine Gürtel mehr.
Finzi zog sein Telefon aus der Hosentasche und schirmte das Licht vom Display mit der Hand ab. Wie erwartet: kein Empfang. Aber so oder so, egal, was in den nächsten Minuten passierte: Es gab eine Reihe von Informationen, die er Adam geben musste. Bis morgen konnte er jetzt möglicherweise nicht mehr warten.
Seine Todesratlosigkeit wich einer Todesgeschäftigkeit. Wie konnte er Adam ohne Netz eine Nachricht senden? Und wie konnte er das, was er ihm zu sagen hatte, kürzestmöglich zusammenfassen? Wie sollte er ihm jetzt in Sekunden vom Golfplatz erzählen, von der Herkunft des Virus, vom Tode Carsten Lorschs? Jetzt, wo er mit seinem Tod viel zu beschäftigt war.
Finzi schrieb eine Nachricht an Adam, deren Text aus einem Vor- und einem Nachnamen bestand. Dann drückte er auf «senden». Wie er erwartet hatte, geschah nichts. «Weiter versuchen?», fragte sein dummes, aber hilfsbereites Telefon. Finzi stand langsam auf und erschrak über die Geräusche, die er dabei machte. Dann wieder Schritte auf dem Gang. Er drehte sich so, dass sein Kopf das Fenster verdeckte. Dann fing er an, daran zu rütteln.
«Bitte nicht um Hilfe rufen», sagte die Frau mit einer nicht unangenehmen, neutralen Stimme. Ihr Deutsch war präzise, aber leblos, die Wörter wie ausgeschnitten. «Es ist niemand auf der Straße.» Das Fenster ging auf, und Finzi drehte sich davon weg zu ihr. Er zeigte ihr sein bestes angstverzerrtes Gesicht, um sie davon abzulenken, was er mit dem rechten Arm machte: Er schob ihn aus dem Fenster, drückte blind noch einmal eine Region auf dem Touchscreen des Telefons, wo er das Zustimmungsfeld zu «Weiter versuchen?» vermutete, und dann warf er das Telefon durch das Kellerfenster mit einem fast spielerischen, in jedem Falle aber eleganten Lupfer nach oben Richtung Bürgersteig. Um das schotterige Aufschlaggeräusch zu übertönen, rief er pro forma zweimal trotzdem laut um Hilfe. Leider wusste er, dass die Frau recht hatte: In Hammerbrook hörte einen keiner schreien.
«Bitte nicht», sagte die Frau, als wäre sie angewiesen auf seine Gnade und nicht er auf ihre. Sie bewegte die Verschlagtür und seufzte, als sie den Riegel spürte. Offenbar scheute sie die Anstrengung, die Tür mit Gewalt zu öffnen. Finzi sah seine Chance. Mit einem Satz, dessen Wucht ihn selbst überraschte, war er bei der Tür und stemmte sich dagegen. Die Frau war kaum über eins sechzig, die musste ihn erst mal beiseiteschieben. Gut, es gab die zwei bis drei Zentimeter großen Zwischenräume zwischen den alten Leisten der Verschlagtür, aber wenn sie ein Messer hatte, dann hatte er die Chance, es ihr aus der Hand zu treten. Sie wich einen Schritt zurück, und aus dem Augenwinkel registrierte er, dass sie genauso bedeutungslos und uninteressant aussah wie auf dem Parkplatz.
Schicken die keine Albaner oder Russen mehr?, dachte er mit abnehmendem beruflichem Interesse. Keine unehrenhaft entlassenen Elitesoldaten, in Tschetschenien verschlissen, bereit für jede Art von
wetwork
, «nasser Arbeit»? So was
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