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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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Beifahrersitz tat Danowski, als schliefe er, während die Bilder des Vormittags ungeordnet vor seinem inneren Auge abliefen. Voodoo, ein anderer Kulturkreis, schon klar. Aber die Nägel in den Geschlechtsteilen des Fetischs waren neu, als hätte Kathrin Lorsch ihren Mann in dieser Körperregion vor kurzem besonders bestrafen wollen. Und dann der Nagel, den sie ihm mit an Bord gegeben hatte: als sollte es eine symbolische Verbindung zwischen dem Nagelfetisch bei ihr zu Hause und der Reise ihres Mannes geben. Aber warum sollte ihr Mann Nägel «mit Köpfen» machen, wie sie auf die Karte geschrieben hatte?
    Sein Telefon vibrierte. Er seufzte. Leslie.
    «Scheiße.»
    «Du hast es vergessen, oder?»
    «So was von vergessen. Total.»
    «Das heißt, wir müssen den Termin bezahlen.»
    «Echt?»
    «Echt. Achtzig Euro.»
    «Ich mach’s wieder gut. Dafür geh ich nach der Schicht nicht mit Finzi ins Geizhaus.»
    «Ich leg jetzt auf.»
    Finzi sah ihn fragend an. «Impftermin für die Kinder», erklärte Danowski. «Heute Morgen. Und ich hab’s vergessen.»
    «Passiert dir doch sonst nicht.»
    «Stimmt.» Danowski sah, dass es zu nieseln angefangen hatte. «Ich bin mit meinen Gedanken offenbar woanders.» Er ließ das Fenster herunter und roch den feuchten Staub und die Abgase der schleichenden Autos. «Und warum fahren die Hamburger bei Regen eigentlich Schritttempo? Kannst du mir das noch mal erklären? Ist ja nicht so, als würdet ihr keinen Regen kennen. Aber sobald es regnet, würdet ihr am liebsten den Wagen mitten auf der Straße abstellen und schreiend wegrennen.»
    «Regen ist es nur, wenn’s von vorne kommt», sagte Finzi, und sie sahen zu, wie die abgenutzten Wischerblätter den Frühlingsregen als trübsinnigen Film auf der Frontscheibe verteilten.
     
    Als Kathrin Lorsch ihnen die Tür öffnete, hielt sie eine Kamera in der Hand. Danowski lächelte, als warte er auf das Vögelchen, während er mit dem Kinn auf die Kamera zeigte.
    «Was fotografieren Sie denn?»
    Sie sah klar und wach aus, sie ähnelte ihrem Antlitz von gestern wie eine Reinzeichnung dem Entwurf. Vielleicht Make-up, eine Nacht Schlaf oder am Ende Erleichterung, weil der Alte weg war, dachte Danowski mit einem Anflug von Bosheit. Er merkte, dass sie keine Lust hatte, seine Frage zu beantworten, aber dass sie gleichzeitig nicht widerstehen konnte, über ihre Arbeit zu sprechen.
    «Mein Bild ist fertig», sagte sie schlicht.
    «Dürfen wir mal sehen?»
    «Eigentlich nicht.»
    «Wir haben auch ein Bild dabei.» Er merkte, dass Finzi ungeduldig wurde. «Wir zeigen Ihnen unseres, Sie zeigen uns Ihres.»
    Sie lachte zum ersten Mal, leicht und leise. «Anzüglich.»
    «Nein», sagte Danowski. «Albern.»
    In ihrem Atelier gab Finzi ihnen durch großbuchstabige Körpersprache zu verstehen, dass er anfing, sich als fünftes Rad am Wagen zu fühlen. Danowski hatte lange keinen Fall mehr bearbeitet, in dem es tatsächlich Verdächtige oder Zeugen gab, seit einigen Jahren hatte er es hauptsächlich mit Spuren, Vermerken und Akten zu tun. Er erinnerte sich, dass er früher immer einen Draht bekommen hatte zu Menschen, die er für verdächtig hielt oder bei denen er davon überzeugt war, dass sie etwas zu verbergen versuchten. Es war, als löste sich dadurch eine gewisse Distanz auf, die er als Sachbearbeiter normalerweise zu Bürgern hatte. Plötzlich war man in einem Boot, man spielte dasselbe Spiel, man war auf derselben Seite im letzten Drittel des gleichen Buches.
    «Und?», fragte Kathrin Lorsch. Sie standen vor dem Porträt der beiden Kinder, das Danowski gestern zum ersten Mal gesehen hatte. Er erinnerte sich, wie fahl und leichenhaft ihre Gesichter gestern ausgesehen hatten. Heute hatten sie Farbe auf den Wangen, ihre Augen leuchteten fast in einem hellgrauen Blau, etwas grünlicher bei dem Mädchen als bei dem Jungen. Sie wirkten, wie seine Großmutter gesagt hätte, «wohl». Nur der traurige Ausdruck war ihnen geblieben. Die Bäume dahinter unscharf.
    «Gestern habe ich fast noch die Schädelknochen durch die Haut gesehen», sagte Danowski.
    «Entwesung», sagte Kathrin Lorsch und nickte. «Das ist meine Technik. Ich nenne sie auch archäologische Porträts. Ich male im Grunde vom Foto, aber in Schichten. Ich beginne mit den Knochen und übermale sie mit halbtransparenter Farbe im nächsten Arbeitsschritt mit den Muskelsträngen, den Gefäßen, dem Fleisch und der Haut. Dann folgen die Haare, die Augen und so weiter, und dann erst die Kleidung und

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