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Treibland

Treibland

Titel: Treibland Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Till Raether
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dazu bräuchten wir Ihre Hilfe bei der Staatsanwaltschaft. Habernis möchte keine Unruhe.»
    Seine Chefin schüttelte langsam den Kopf. «Dazu werden Sie heute keine Zeit haben. Sie haben irgendwann in den nächsten drei, vier Stunden einen Termin beim Dezernat für Interne Ermittlungen. Informell. Jemand vom Personalrat wird wohl auch dabei sein. Keine Ahnung, wann das genau losgeht. Halten Sie sich einfach bereit und fangen Sie bis dahin nichts Neues an.»
    «Wegen der Sache am Freitag.» Voller Selbsthass.
    «Genau. Wir haben eine Beschwerde und die Androhung einer Anzeige bei der Staatsanwaltschaft bekommen. Darum klären Sie das am besten vorab mit den Leuten vom DIE .»
    «Und woher kommt die Beschwerde?»
    «Zeugen. Keine Ahnung. Darf ich nicht sagen. Und so weiter.»
    Danowski warf seinen Kugelschreiber auf den Tisch. «Mist», sagte er halblaut. Die Chefin nickte und ging. Als er aufblickte, war Finzi gerade dabei, einen Hauspostumschlag an Peters mit der Kopie der alten Aktennotiz zuzukleben.
    «Und du so?», fragte Danowski trübe.
    «Alte Geschiche», antwortete Finzi und warf den Umschlag in den Korb, der für Sendungen an andere Behörden reserviert war.

22 . Kapitel
    Nachdem sie eine Transportfirma beauftragt hatte, ihre Skulpturen und Porträts abzuholen, ging Kathrin Lorsch langsam und barfuß durch das Haus, das nun ihr allein gehörte, und dachte über ihr Gewissen nach.
    Wenn etwas Wirklichkeit wurde, das man sich in Tagträumen immer wieder ausgemalt hatte – wäre es dann nicht verwerflich gewesen, dem Leben abgewandt, diese Wirklichkeit nicht genauso zu genießen, wie man einst die Tagträume genossen hatte?
    Was war Rache, wenn nicht süß, und wenn süß, dann süß wie Verwesung, oder etwa nicht? Und war es die Süße der eigenen Verwesung, die man kostete, wenn man Rache in sein Leben ließ?
    Sie blieb vor dem Nagelfetisch stehen. Ihre verfügbare Kunst würde sie auf den Weg zu einem Kölner Auktionshaus schicken, das auf die kleineren und mittleren Namen der achtziger und neunziger Jahre spezialisiert war, mithin auch auf ihren. Der Nagelfetisch sollte im Haus bleiben, bis er verkauft war. Eine Art Platzhalter, ein Wächter ihrer Erinnerung an Carsten. An Carsten und sie. Und daran, was sie einander angetan hatten in einem Vierteljahrhundert voller Liebe, Gleichgültigkeit und Schmerz.
    Sie dachte daran, wie Kabezya-Mpungu im Schöpfungsmythos der zentralafrikanischen Baluba die Welt erschuf und die ersten Menschen, die noch kein Herz hatten. Als sie den Mythos zum ersten Mal las, hatte sie sich gefragt, warum die Menschen anfangs kein Herz hatten. Vielleicht, weil sie ohne Herz vollkommenere Wesen hätten sein können: nicht ihren Gefühlen unterworfen, nur ihren Instinkten und ihrem Willen. Aber der Schöpfer der Baluba war ein Gott, der sich entzog, der nicht gesehen werden wollte, der sich verflüchtigte. Im Grunde wie Carsten, dachte sie und erinnerte sich daran, wie Kabezya-Mpungu, nachdem er alles erschaffen hatte, sich entschied, die Welt zu verlassen und unsichtbar zu werden: «Ich will nicht, dass die Menschen mich länger sehen. Ich kehre in mich zurück und sende Mutima, das Herz.»
    Das Seltsame war, dass sie die Geschichte aus einem alten Buch mit afrikanischen Mythen kannte, dem Exemplar ihres Großvaters, das sie bei ihrem Vater gelesen hatte, und dass ihre eigene Familienlegende erzählte, ihr Vater habe sie «Mutima» nennen wollen. Aber der Standesbeamte in Wandsbek habe abgewunken, 1964 , Kathrin Mutima Hennings, nicht dran zu denken. Es hätte gepasst, denn in der Legende der Baluba erschien das Herz «in einem kleinen, handgroßen Gefäß», ganz wie auf ihrem Nagelfetisch, und das Herz wandte sich, wie es hieß «gen Sonne, Mond, Finsternis und Regen» und schrie: «Kabezya-Mpungu, unser Vater, wo ist er!» Und die Natur oder die Finsternis oder wer auch immer antwortete Mutima: «Vater ist fort, und wir kennen nicht den Weg, den er ging.»
    Fast die Worte ihrer Mutter. Und dann die Worte des Herzens Mutima im Mythos der Baluba: «Gewaltig sehne ich mich, mit ihm zu sprechen. Da ich ihn nicht finden kann, trete ich in diesen Menschen. Und so werde ich fortan wandern, von Generation zu Generation.»
    Sie betrachtete ihren Fetisch, der allein mit ihr im Atelier stand, und zündete sich eine Zigarette an. Carsten hätte niemals zugelassen, dass sie im Haus rauchte. Nein, das war falsch formuliert. Es war undenkbar gewesen für ihn, und deshalb hatte sie es niemals

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