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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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Die eigentliche Frage war doch: Warum hatte sich die Kamera aus den vielen Chassidim ausgerechnet Bobby Hoffman herausgepickt? Bei mehrmaligem Ansehen wurde es noch offensichtlicher, und es lag nicht am Schnitt. Hätte Vanko das Band bearbeitet, so hätte er die verwackelten Bilder herausgeschnitten, als er zum Grab rannte. Und dass Bobby während des Gebets mehr oder weniger in Großaufnahme gezeigt wurde, war nicht gut genug kaschiert worden. Gegen Ende, unmittelbar vor der Abfahrt der Busse, spürte Arkadi förmlich, wie die Kamera Bobby suchte. Er sah sich Einstellung für Einstellung ganz genau an, bis er in der aufgeklappten Glastür des Busses das Spiegelbild Vankos entdeckte, wie er Visitenkarten verteilte. Wenn aber Vanko nicht gefilmt hatte, wer dann? Wann hatte er die Kamera weitergegeben? Vor dem Kaddisch? Oder noch früher, vor dem Besuch der Gruft?
    Arkadi hörte, wie auf dem Parkplatz vor dem Wohnheim ein Wagen scharf bremste und Leute ins Treppenhaus unten rannten. Hastig gewechselte Worte, die verwirrte Stimme der Hausmeisterin. Im nächsten Augenblick polterten schwere Stiefel die Treppe herauf und blieben nebenan stehen, vor dem Zimmer, in dem Arkadi gewohnt hatte. Ein Schlüssel klimperte, dann waren sie drin. Den Geräuschen nach zu urteilen rissen sie die Matratze und Schubladen heraus. Dann waren sie wieder auf dem Flur. Aus ihrem energischen Vorgehen schloss Arkadi, dass es Oschogins Leute waren, keine Milizionäre.
    Arkadi legte die Kette vor. Gleich darauf klopfte es.
    »Renko? Renko, wenn Sie da drin sind, machen Sie auf.« Es war Oschogin, der Arkadi die zweifelhafte Genugtuung verschaffte, Recht gehabt zu haben. Gleichzeitig kam ihm die Tür nicht sonderlich stabil vor. Er zog sich weiter ins Zimmer zurück. Er hörte, wie die Hausmeisterin über den Gang watschelte und über den Engländer sprach, möglicherweise dazu eine Geste des Trinkens machte. Sie klopfte sachte an die Tür und rief Campbells Namen. Eine Faust pochte weniger höflich.
    »Renko«, rief Oschogin, »Sie hätten die Bewerbung ausfüllen sollen. Wir hätten schon eine Stelle für Sie gefunden. Es hätte nicht so weit kommen müssen.«
    Die Hausmeisterin probierte den falschen Schlüssel und entschuldigte sich. Arkadi wusste, wie einfach es war, das Schloss zu öffnen. Den Schlüssel hatte sie auf jeden Fall, sie musste nur ihre Brille finden.
    »Da ist sie ja«, sagte sie.
    Arkadi gewahrte eine Bewegung hinter sich. Professor Campbell kam, triefend vor Nässe, in Unterhose und Unterhemd aus dem Badezimmer. Er nahm Vankos Video aus dem Rekorder, legte eine Kassette ein, auf der Liverpool - Chelsea stand, und drehte am Lautstärkeregler. Auf dem Weg zurück ins Bad griff er sich eine Flasche, die noch nicht ganz leer war. Als die Tür plötzlich aufging und die Kette sich spannte, blieb er stehen und brüllte durch den Spalt: »Haltet eure blöden Schnauzen!«
    Arkadi wusste nicht, wie gut Oschogins Englisch war, aber die Botschaft war offensichtlich angekommen. Es folgte eine längere Pause, in der der Oberst wohl überlegte, ob er die Tür aufbrechen und dem betrunkenen Engländer an die Gurgel gehen sollte. Die Pause verstrich. Arkadi hörte, wie Oschogin und seine Männer über den Flur stiefelten, sich kurz berieten, dann die Treppe hinuntereilten und zum Wagen rannten. Türen knallten, und sie fuhren weg.
     
    Stunden krochen über die Jalousie am Fenster. Arkadi wusste, dass er eigentlich schlafen sollte. Aber er wusste auch, dass er, sobald er die Augen schloss, wieder vor Evas Hütte stehen würde.
    Er rief im Kinderheim an und fragte nach Schenja. Olga Andriwna kam an den Apparat. »Sind Sie endlich wieder in Moskau?«, fragte sie.
    »Nein.«
    »Sie sind unmöglich. Aber wenigstens haben Sie diesmal angerufen, das ist ein Fortschritt. Schenjas Gruppe hat gerade Musikstunde, aber er singt ja sowieso nicht. Warten Sie.«
    Arkadi saß mit dem Handy in der Hand zehn Minuten da.
    Die Direktorin meldete sich wieder: »Hier ist er.« Natürlich sagte Schenja nichts.
    »Hörst du gern Musik?«, fragte Arkadi. »Irgendeine spezielle Gruppe? Hast du Schach gespielt? Ordentlich gegessen?«
    Arkadi erinnerte sich an Filmaufnahmen von Pionieren der Fliegerei, den erfolglosen, die losrannten, mit selbst gebauten Flügeln flatterten und nie vom Boden abhoben. Das war auf der Erde. Schenja hatte eine Schwerkraft, die der des Planeten Jupiter gleichkam.
    »Meine Ermittlungen hier sind bald abgeschlossen. Ich komme zurück, und

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