Treue Genossen
in der Sperrzone, orientierungslos und aus dem Tritt, doch am Leben. Er sah sich im Raum um, um wieder einen klaren Kopf zu bekommen, und sein Blick fiel auf die Ikonen, die hoch oben in der Ecke hingen, Christus an der linken, Maria an der rechten Wand, beide mit reich besticktem Stoff behängt und von Votivkerzen auf einem Regal beleuchtet. Der Christus war in Wirklichkeit eine Postkarte, aber die Muttergottes war ein echtes Gemälde auf Holz, eine byzantinische Madonna mit einer ungewöhnlichen blauen Kutte mit goldenen Sternen, die Hände zum Gebet sanft aneinander gelegt. Sie sah aus wie die gestohlene Ikone, die er im Beiwagen des Motorrads gesehen hatte. Jene Ikone war über die Grenze nach Weißrussland gebracht worden. Wie kam sie hierher?
»Die Juden sind da«, sagte Vanko.
»Wo?«, fragte Arkadi.
»In Tschernobyl. Überall, gehen die Straße rauf und runter.«
»Danke, Vanko, wir sind informiert«, sagte Alex, und an Arkadi gewandt: »Chassidische Juden. Hier liegt ein berühmter Rabbi begraben. Sie besuchen sein Grab und beten. Maria ist dran.«
Nach der üblichen Ziererei und Protestiererei setzte sich Maria in ihrem Stuhl auf, schloss die Augen und stimmte ein Lied an, das die alte Frau in ein Mädchen verwandelte, das seinen Geliebten zu einem mitternächtlichen Stelldichein erwartete und in so hohen Tonlagen trällerte, dass die Fensterscheiben vibrierten wie Kristallgläser. Als das Lied zu Ende war, schlug Maria wieder die Augen auf, entblößte ihre Stahlzähne zu einem Lächeln und strampelte vergnügt mit den Beinen. Roman wollte Kostproben seines Repertoires auf der Geige zu Gehör bringen, doch dann riss eine Saite und setzte ihn außer Gefecht.
»Arkadi?«, fragte Alex.
»Bedaure, aber mit meinen Unterhaltungskünsten ist es nicht weit her.«
»Dann bist du an der Reihe«, sagte Alex zu Eva.
»Gut.« Sie fuhr sich mit den Händen durchs Haar, wie um sich zu kämmen, richtete die Augen auf Alex und begann:
»Wir alle hier sind Säufer oder Huren: Unglücklich, doch zusammen …«
Die Sprache war derb und direkt, ein Gedicht von Achmatowa, das Arkadi kannte. Jeder gebildete Mann und jede gebildete Frau über dreißig kannte es aus der Zeit vor der neuen Poesie von »McDonald’s ist einfach gut« und »Snickers for Energy!«.
»Ich trage einen engen Rock, damit man meine Kurven sieht. Die Fenster sind geschlossen. Droht Blitz und Donner oder Schnee? Wie vertraut ist mir dein Blick, wie Katzenaugen auf der Hut.«
Ihr eigener Blick wanderte von Alex zu Arkadi, und sie zögerte so lange, dass Alex die letzte Strophe übernahm.
»O traurig Herz, wie lange noch, Bis dir die Stunde schlägt? Doch jene, die dort drüben tanzt, ganz sicher in der Hölle brät!«
Alex zog Evas Gesicht zu sich heran und küsste sie stürmisch, bis sie sich losriss und ihm eine so kräftige Ohrfeige verpasste, dass Arkadi mit ihm litt. Sie sprang auf und stürzte zur Tür hinaus. Genau wie bei einem russischen Fest, dachte Arkadi. Die Leute betranken sich, gestanden leichtfertig ihre Liebe, machten ihrer Abneigung Luft, bekamen hysterische Anfälle, rannten aus dem Zimmer, wurden zurückgeholt und mit Schnaps kuriert. Es war keine gepflegte Abendgesellschaft.
Arkadis Handy klingelte. Olga Andriwna vom Kinderheim in Moskau.
»Chefinspektor Renko, Sie müssen zurückkommen.«
»Eine Sekunde, bitte.« Mit einer entschuldigenden Geste an die Adresse Marias schlüpfte er ins Freie. Eva war nirgends zu sehen, aber ihr Wagen stand noch da.
»Herr Chefinspektor«, fragte Olga Andriwna, »was tun Sie denn noch in der Ukraine? Sie werden hier gebraucht.«
»Ich bin dienstlich hier. Ich arbeite an einem Fall.«
»Sie sollten hier sein. Schenja braucht Sie.«
»Das kann ich mir nicht vorstellen. Ich wüsste niemanden, der mich weniger braucht.«
»Er steht ständig vorn an der Straße und hält nach Ihrem Wagen Ausschau.«
»Vielleicht wartet er auf den Bus.«
»Letzte Woche war er zwei Tage verschwunden. Wir haben ihn schlafend im Park gefunden. Reden Sie mit ihm.«
Sie gab Schenja den Hörer, bevor Arkadi die Verbindung kappen konnte. Zumindest vermutete er, dass Schenja dran war. Alles, was er am anderen Ende der Leitung hörte, war Stille.
»Hallo, Schenja. Wie geht es dir? Wie ich höre, bereitest du den Leuten im Heim Unannehmlichkeiten. Bitte, lass das.« Arkadi machte eine Pause für den Fall, dass Schenja etwas erwidern wollte. »Das wäre dann wohl alles, Schenja.«
Er war weder in
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