Treue Genossen
Helden, als Moskau fragt: >Was ist mit dem Reaktorkern?< Sie antworten: >Der Kern ist in Ordnung, keine Sorge, der Kern ist völlig unversehrt.< Moskau atmet auf. Und das ist die Pointe: >Überall auf der Welt ist der Kern unversehrt<, und hier kommt mein Trinkspruch: >Auf die Männer in allen Kontrollräumen weltweit!< Will denn keiner trinken?«
Roman und Maria saßen wie vor den Kopf geschlagen da und ließen die Füße baumeln. Vanko sah weg. Eva biss in ihre Hand, dann stand sie auf und schlug Alex mit der Faust, aber nicht ins Gesicht wie zuvor, sondern fest gegen die Brust, bis er sie wegzog. Keiner der Anwesenden rührte sich. Sie waren wie erschlaffte Marionetten. Dann stürzte Eva wieder zur Tür. Diesmal hörte Arkadi, wie ihr Wagen ansprang.
Alex hatte seinen Schnaps verschüttet. Er schenkte sich nach und erhob abermals sein Glas. »Also ich fand es lustig.«
In der Regel trieben frische Wasserleichen mit dem Gesicht nach unten und mit hängenden Armen und Beinen dicht unter der Oberfläche. Diese hier schwebte am Gitter vor dem Abfluss, der Wasser aus dem Kühlsee in die kleineren Auffangbecken des Kraftwerks saugte. Nach wie vor wurde Wasser für Notfälle gebraucht. Die Reaktoren waren voller Brennstoff, sie hielten sozusagen nur Winterschlaf.
Zwei Männer versuchten, die Leiche mit Landungshaken herauszuziehen, ohne selbst hineinzufallen. Hauptmann Martschenko sah von der Einfassungsmauer aus zu, umringt von einer Gruppe nutzloser, aber neugieriger Milizionäre. Ganz vorn die Woropai-Brüder. Eva Kaska stand bei ihrem Wagen, möglichst weitab vom Geschehen. Arkadi hatte den Eindruck, dass sie noch wilder und ungekämmter aussah als sonst, sofern das überhaupt möglich war. Wahrscheinlich war sie gerade erst nach Hause gekommen und in einen tiefen Samogon-Schlaf gefallen, als man sie verständigt hatte. Anscheinend dachte sie das Gleiche über ihn.
Im selben Moment, als Martschenko zu Arkadi trat, durchbrach ein Schatten die Wasseroberfläche, zeigte ein glänzendes graues Gesicht mit gummiartigen Lippen und glitt dann zurück in die Tiefe, um mit noch größeren Welsen im Trüben zu fischen.
»Sie werden mir wohl beipflichten«, erklärte der Hauptmann, »dass es in Anbetracht des schlechten Wetters gestern und der Ausmaße des Kühlsees klug war, mit der Suche nach der Leiche zu warten. Aufgrund der Zirkulation im See landet alles irgendwann hier am Abfluss. Jetzt bekommen wir sie frei Haus geliefert.«
»Und es ist zehn Uhr morgens einen Tag später.«
»Ein Fischer fällt über Bord und ertrinkt. Was spielt es da für eine Rolle, ob Sie ihn einen Tag früher oder später finden?«
»Wie bei dem Baum, der im Wald umfällt, ohne viel Lärm zu machen?«
»Im Wald fallen viele Bäume um. So etwas nennt man Unfalltod.«
»Ist Doktor Kaska die einzige verfügbare Ärztin?«
»Die Werksärzte können wir nicht bemühen. Doktor Kaska braucht nur den Totenschein auszustellen, mehr nicht.«
»Hätten Sie nicht einen Pathologen rufen können?«
»Kaska soll in Tschetschenien gewesen sein. Wenn das stimmt, hat sie schon viele Leichen gesehen.«
Eva Kaska klopfte sich eine Zigarette aus der Packung. Arkadi hatte noch nie einen so nervösen Menschen gesehen.
»Übrigens, was ich Sie noch fragen wollte, Herr Hauptmann: Haben Sie eigentlich herausgefunden, wem die Ikone gehört hat, die neulich gestohlen wurde?«
»Ja. Einem alten Ehepaar namens Panasenko. Rückkehrer. Die Miliz hat ein Protokoll aufgenommen. Anscheinend war es eine sehr schöne Ikone.«
»Ja.«
Ein Dieb auf einem Motorrad hatte Roman und Maria Panasenko die Ikone gestohlen, und obwohl das Delikt aktenkundig war, hing die Ikone wieder an ihrem gewohnten Platz in der Hütte ihrer rechtmäßigen Besitzer.
Dies war für Arkadi das Gegenteil eines lautlos fallenden Baums.
Von seinem Standort aus konnte Arkadi halb fertige Kühltürme sehen, so mit Dickicht überwuchert, dass sie ihm wie Tempel einer versunkenen Kultur vorkamen. Die Türme waren für die geplanten Reaktoren fünf und sechs bestimmt gewesen. Jetzt floss Strom in die andere Richtung, und es war nicht mehr als ein Rinnsal, das Glühbirnen und Messgeräte versorgte.
Ironische Beifallsrufe ertönten, als man die Leiche endlich zu fassen bekam und heraushob. Wasser lief aus den Hosenbeinen und Jackenärmeln.
»Haben Sie keine Plane oder Plastikfolie, auf die wir den Toten legen können?«, fragte Arkadi.
»Wir sind hier nicht in Moskau«, erwiderte Martschenko,
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