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Treue Genossen

Treue Genossen

Titel: Treue Genossen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Cruz Smith
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selbst. Arkadi, mögen Sie Komödien?«
    »Wenn sie lustig sind.«
    »Meine garantiert«, erwiderte Alex. »Es ist eine russische Stegreifkomödie. Eine Komödie mit Samogon.«
    Maria köpfte eine neue Flasche, der ein widerlich süßer Geruch nach vergorenem Zucker entströmte, schlurfte auf wackligen Beinen von Gast zu Gast und füllte die Gläser.
    »21. April, 1986. Der Schauplatz: der Kontrollraum von Reaktor vier. Die handelnden Personen: die Nachtschicht, bestehend aus fünfzehn Technikern und Ingenieuren, die beschließen, ein Experiment durchzuführen. Sie wollen testen, ob die Turbinen bei einem Stromausfall selbst noch genug Strom erzeugen können, um die Kühlung des Reaktors zu gewährleisten. Das Experiment ist bereits bei eingeschalteten Sicherheitssystemen durchgeführt worden. Diesmal soll es unter realistischeren Bedingungen ablaufen. Keiner ist Physiker, aber für solche Experimente gibt es Prämien und Belobigungen. Allerdings ist es gar nicht so einfach, das Sicherheitssystem eines Atomreaktors auszutricksen. Das erfordert Hingabe. Man muss das Notkühlsystem abkoppeln und die Ventile schließen und blockieren.« Arkadi hastete hin und her und bediente imaginäre Schalter. »Die automatische Überwachung abstellen, die Dampfregulierung blockieren, Voreinstellungen neutralisieren und die Notstromaggregate außer Betrieb setzen. Dann beginnt man, die Steuerstäbe auszufahren. Das ist wie ein Ritt auf einem Tiger, das macht Spaß. Es gibt insgesamt einhundertzwanzig Steuerstäbe, mindestens dreißig müssen immer im Reaktorkern verbleiben, denn es handelt sich um einen Reaktor sowjetischer Bauart, ein militärisches Modell, das bei geringer Leistung zu Instabilität neigt, aber das ist natürlich ein Staatsgeheimnis. Dann sinkt die Leistung dramatisch.«
    »Und wann wird es lustig?«, fragte Eva.
    »Es ist schon lustig, und es wird noch lustiger. Stellt euch die Verwirrung der Techniker vor. Sie bereiten Schritt für Schritt ein kleines nächtliches Experiment vor, und die Reaktorleistung sackt in den Keller. Der Kern wird mit radioaktivem Xenon und Jod überschwemmt, und es bildet sich ein explosives Gemisch aus Wasserstoff und Sauerstoff. Außerdem haben sie sich verzählt - jawohl, verzählt! Sie haben alle Steuerstäbe bis auf achtzehn ausgefahren, zwölf mehr als maximal zulässig. Trotzdem bleibt noch ein letzter verhängnisvoller Schritt zu tun. Sie können die Steuerstäbe wieder einfahren, die Sicherheitssysteme aktivieren und den Reaktor abschalten. Noch haben sie nicht die Turbinenventile geschlossen und mit dem eigentlichen Experiment begonnen. Noch haben sie nicht den letzten Knopf gedrückt.«
    Alex tat so, als zögere er.
    »Halten wir inne und vergegenwärtigen uns, was auf dem Spiel steht. Es gibt eine monatliche Prämie. Es gibt eine Prämie zum Ersten Mai. Und wenn das Experiment erfolgreich verläuft, winken wahrscheinlich Beförderungen und Belobigungen. Andererseits würde ein Abschalten des Reaktors später Fragen aufwerfen und Konsequenzen nach sich ziehen. Darum geht es, Prämie oder Katastrophe. Und als gute Sowjetmenschen halten sie sich schützend die Hände vor die Eier und marschieren vorwärts.«
    Alex drückte auf den Knopf.
    »Im Nu beginnt das Kühlmittel im Reaktor zu sieden. Dumpfe Schläge dringen aus der Zentralhalle des Reaktors. Ein Ingenieur drückt den Havarieschutzknopf, doch die Steuerstäbe lassen sich nicht einfahren, denn die Führungskanäle im Reaktor haben sich verformt, und die Stäbe verklemmen sich. Zwanzig Sekunden später sprengt überhitzter Wasserstoff die Abdeckung weg und schleudert Reaktorteile, Graphit und brennenden Teer in den Himmel. Ein schwarzer Feuerball steht über dem Gebäude, und blau ionisiertes Licht schießt aus dem offenen Kern. Fünfzig Tonnen radioaktiven Brennstoffs fliegen in die Luft, das ist so viel wie von fünfzig Hiroshimabomben.
    Aber die Komödie geht weiter. Kühle Köpfe im Kontrollraum wollen nicht wahrhaben, dass sie Mist gebaut haben. Sie schicken einen Mann runter, der nach dem Reaktorkern sehen soll. Er kommt zurück, schwarz von der Strahlung wie ein Mann, der die Sonne gesehen hat, und berichtet, dass kein Kern mehr da ist. Sein Bericht ist eine Zumutung, also opfern sie einen zweiten Mann, der im gleichen beklagenswerten Zustand wiederkommt. Jetzt stehen die Männer im Kontrollraum vor der schwersten Prüfung: Sie müssen in Moskau anrufen.«
    Alex greift zu seinem Glas Samogon.
    »Und was sagen unsere

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