Treue in Zeiten Der Pest
den Gefangenen zu holen. Als Joshua sie kommen hörte, ahnte er, dass es mit ihm zu Ende gehen sollte. Er schickte noch ein Stoßgebet zum Himmel, dann ergab er sich in sein Schicksal.
Die Soldaten sprachen nicht zu ihm. Sie zerrten ihn aus seiner Zelle und stießen ihn vorwärts. Mit den schweren Fesseln an Fuß- und Handgelenken schlurfte Joshua nur sehr unbeholfen die vielen Stiegen empor, die vor ihm lagen. Dann wurde er durch einen Gang gejagt. Vor einer schweren Eisentür machten sie Halt. Einer von ihnen öffnete die Tür, ein anderer trat Joshua in den Rücken, und er torkelte hinaus. Direkt vor der Schwelle stürzte er in den Straßenstaub.
Draußen war es dunkel. Unzählige Fackeln flackerten über ihm. Da er tagelang von Finsternis umgeben war, konnte Joshua zunächst kaum etwas erkennen. Angst hatte er allerdings keine. Das Einzige, was er hoffte, war, dass seine Brille nicht zerbrach.
Einen Moment lang blieb Joshua wie betäubt liegen. Dann versuchte er, sich aufzurappeln. Erst jetzt bemerkte er die vielen Menschen, die ihn umringten. Was wollten alle diese Leute hier? Joshua wagte es nicht, diesen Gedanken zu Ende zu denken. Und was dann geschah, begriff er überhaupt nicht.
Die Gefängnistür wurde in dem Moment aufgerissen, als Uthman zum Angriff übergehen wollte. Uthman erstarrte mitten in der Bewegung. Sie liefern ihn tatsächlich dem Pöbel aus, dachte er. Irgendwo in der Nähe vernahm er plötzlich Pferdegetrappel. Frauen schrien auf, Männer brüllten, und durch die Reihen der Gaffer preschte ein Reiter.
Nein, das war kein Reiter, dachte Uthman, als er genauer hinsah, das war der leibhaftige Tod! Der Sarazene glaubte, seinen Augen nicht zu trauen. Quer durch die Menge kam ihm ein bleiches Gerippe entgegengeritten. Er konnte die einzelnen Knochen sogar klappern hören, oder bildete er sich das nur ein? Die Grauen erregende Gestalt lachte dröhnend. Uthman hatte dieses Lachen schon einmal irgendwo gehört. Es musste während einer der vielen Schlachten gewesen sein, an denen er teilgenommen hatte. Dort hatte der Tod nicht wenige geholt. Sein unheilvolles Gelächter wird dort zuhauf erklungen sein.
Uthman wollte sich dem Knochenmann in den Weg werfen, denn das Pferd dieses unheimlichen Reiters stürmte erbarmungslos auf den im Staub liegenden Joshua zu! Mit einem Satz sprang der Sarazene vorwärts, doch er erreichte Joshua nicht rechtzeitig. Gevatter Tod war schneller als er. Mit einer schwungvollen Geste streckte er eine Hand nach dem Daniederliegenden aus und zog ihn behände in seinen Sattel empor. Im Schwung einer einzigen, fließenden Bewegung setzte er ihn vor sich auf das Pferd und stob durch die entsetzte Menge davon.
Der schauerliche Ton seines klappernden Gerippes klang den Umstehenden noch lange in den Ohren. Selbst als sie schon längst in der Dunkelheit verschwunden war, stand die Menge noch wie gelähmt auf der Straße und blickte der entsetzlichen Erscheinung hinterher. Niemand unter ihnen konnte sich erinnern, jemals etwas vergleichbar Grauenerregendes gesehen zu haben.
12
Mai 1318. Das Läuten der Pestglocken
Der Rathaussaal war bis auf den letzten Platz gefüllt. Die Einwohner von Quimper hatten eine Sitzung erzwungen, die der Stadthauptmann, der nach der Flucht von Maire Michel die Verwaltung leitete, unter ihrem Druck nun einberufen hatte.
Noch immer waren nur die wenigsten bereit zuzugeben, dass sich in Quimper eine gefährliche Seuche ausgebreitet hatte. Daran änderte selbst der sich häufende Anblick von Leichensäcken nichts, die aus Nachbarhäusern hinaus auf die Straße geworfen wurden, wo sie von Totenkarren abtransportiert wurden, deren Pestglocken laut bimmelten. Man behauptete einfach, die Toten seien an einer anderen Krankheit gestorben als der Pest. Es schien, als wollten sich die Bewohner von Quimper unter keinen Umständen bei ihren alltäglichen Verrichtungen stören lassen. Sie klammerten sich an ihre kleinen Geschäfte, an ihre regelmäßigen Mahlzeiten, sie säuberten jetzt auffallend langsam und gründlich ihre Wohnstätten, standen mit Besen und Putzlumpen vor den Häusern und wirkten demonstrativ gelassen. Aber sobald sie die Haustüren hinter sich schlossen, traten tiefe Sorgenfalten in ihre Gesichter.
Trotz aller Bemühungen, Sorge und Angst nicht allzu spürbar werden zu lassen, hatte sich die Lage in der Stadt merklich verschlechtert. Die Kinder gingen nicht mehr in die Domschule. Auf den Märkten wurde fast keine
Weitere Kostenlose Bücher