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Treue in Zeiten Der Pest

Treue in Zeiten Der Pest

Titel: Treue in Zeiten Der Pest Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Philipp Espen
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wir den Gefangenen nicht freiwillig heraus? Sollen die da unten mit ihm machen, was sie wollen. Dann können wir endlich verschwinden und uns um unsere Familien kümmern.«
    Die Unruhe unter den Soldaten verstärkte sich, nachdem einer von ihnen ausgesprochen hatte, was allen durch den Kopf ging.
    »Er hat Recht. Lasst uns abhauen«, sagte ein weiterer Soldat.
    Da schritt der Hauptmann ein. »Alle bleiben auf ihren Posten! Wir sind es, die das Gesetz vertreten, nicht die da unten auf der Straße!«
    »Ja, aber welches Gesetz vertreten wir? Der Bürgermeister ist mit seinen Leuten getürmt, und die Stadt steht Kopf. Wozu noch an Gesetzen festhalten, wenn um uns herum alles zusammenbricht?«
    »Damit die Welt nicht gänzlich aus den Fugen gerät!«, erwiderte der Hauptmann energisch. »Und jetzt will ich keine Klagen mehr hören. Wir sind zur Bewachung hierher abkommandiert, und hier bleiben wir, bis ein Gegenbefehl kommt!«
    »Mein Gott, Hauptmann, kapiert doch, der Oberbefehlshaber ist abgehauen!«, brüllte ein junger Heißsporn. »Wenn wir auf seinen Befehl warten, dann sitzen wir hier noch, wenn wir längst gestorben sind!«
    »Er hat Recht!«, rief ein anderer. »Geben wir ihnen den Juden. Und dann machen wir hier dicht!«
    Der Hauptmann seufzte. Es braute sich eine Revolte zusammen. Was sollte er tun? Der Jude tat ihm Leid. Er wusste, dass er die Seuche nicht verursacht hatte. Krankheiten wie diese wurden von Gott geschickt, sie dienten den Menschen als Prüfung, und wieder einmal versagten sie, das war eindeutig. Auch er selbst versagte gerade, er konnte nichts dagegen tun.
    »Ich kann nicht billigen, was ihr vorhabt«, sagte er. »Aber ich bin sehr müde. Der Tag war anstrengend, daher werde ich mich jetzt aufs Ohr hauen. Wenn hier eine Zellentür geöffnet wird, dann gnade euch Gott!«
     
     
    Joshuas ohnehin schon kleine und hagere Gestalt war in den letzten Tagen noch stärker zusammengefallen. Seine Brille saß schief, sein feines, verträumtes Gesicht war leichenblass geworden, und die großen Augen, die immer nur an die kahle Wand gegenüber starrten, wirkten wie tiefe dunkle Wunden. Ihm, der stets nach den Gesetzen des Talmuds gelebt hatte, schien Gott nunmehr weiter entfernt zu sein als der entlegenste Himmelskörper. Und das schmerzte ihn. In seiner Erinnerung erklangen die tröstenden Gesänge seiner Gemeinde, er sah, wie die Thora entrollt wurde und man aus ihr las, und hörte die hellen und die tiefen Stimmen, die bald das gesamte Gotteshaus erfüllten.
    Joshua fürchtete nicht um sich. Aber es schmerzte ihn sehr, dass er seine Freunde nicht wieder sehen würde. Er hatte das, was an diesem Tag im Gefängnis geschehen war, nur schwach mitbekommen. Laute Stimmen und das Klirren schwerer Schwerter waren in seine Zelle gedrungen. Er meinte sogar, einmal Henris Stimme gehört zu haben, doch wahrscheinlich war das nur ein Traum gewesen, ebenso, wie er vor Tagen – oder waren es bereits Monate? – geglaubt hatte, die Stimme seiner Frau zu hören.
    Joshua hatte einmal gehört, dass selbst in Ländern, in denen es keine Juden gab, paradoxerweise Juden umgebracht wurden, nämlich Christen, denen eine vermeintliche jüdische Abstammung nachgewiesen worden war. Überall auf der Welt gab es Menschen, die gegen Bezahlung schworen, Juden hätten Seuchen verbreitet, Brunnen vergiftet und seien mit dem Teufel im Bunde. Das Pogrom in Speyer hatte er selbst miterlebt, und auch in Mainz waren Juden ermordet worden. Die meisten Juden lebten zur Zeit, soviel er wusste, in Wien. Als dort eine Seuche ausbrach und Tausende Einwohner starben, hatten die Juden die meisten Opfer zu beklagen. Dennoch hatte man behauptet, sie selbst hätten die Seuche verbreitet.
    Zur Strafe wurden die Juden in der Regel verbrannt. Erst vor kurzem war in einer Stadt am Bodensee eine Feuersbrunst ausgebrochen, weil die ortsansässigen Juden sich angeblich geweigert hatten, beim Löschen zu helfen – sie sollen während des Brandes mit einer Hostienschändung beschäftigt gewesen sein. Die aufgebrachte Menge hatte die Juden daraufhin in vier Holzhäuser verfrachtet und diese angezündet, woraufhin alle Juden bis auf die Knochen verbrannten.
    Was bedeutet der Hass gegen uns Juden?, fragte sich Joshua. Vielleicht hat sich der Herr tatsächlich von uns abgewandt. Aber waren wir nicht einst sein auserwähltes Volk?
     
     
    Nachdem der Hauptmann seinen Widerstand aufgegeben hatte, stiegen die Soldaten in den unterirdischen Zellentrakt hinab, um

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