Treue in Zeiten Der Pest
unchristlich, Mann! Was kann uns sein Einwand helfen? Nichts!«
Ein Metzger, der so hastig in den Saal geeilt war, als er von der Versammlung erfahren hatte, dass er noch sein großes Schlachtermesser in der Hand hielt, stand auf und sagte: »Für mich sind die Juden das Übel! Ich verlange vom Rat der Stadt, dass sie verbrannt werden und dass niemals mehr einer dieser Hunde Wohnrecht in Quimper bekommt! Treibt sie auf ein Schiff, steckt es in Brand und lasst es die Odet hinab zum Meer gleiten, so löst sich alles mit ein wenig Rauch in Wohlgefallen auf!«
»Der Metzger hat Recht! Hört auf seine Worte!«
»Von welchen Juden sprichst du, Metzger?«, fragte der Stadthauptmann. »In Quimper gibt es schon lange keine Juden mehr. Ich müsste es wissen.«
»Aber an den Brunnen liegen doch ihre Schöpfkellen herum! Warum liegen sie noch immer dort, wenn nicht deshalb, weil die Juden dort heimlich ihr Wasser holen und bei dieser Gelegenheit ihre Pulver einstreuen!«
»Was du für Schöpfkellen hältst, sind Werkzeuge der Bauarbeiter. Und wenn du schon Anschuldigungen laut werden lässt, denke nach, bevor du sprichst. Warum sollte jemand einen Brunnen vergiften, aus dem er selbst sein Trinkwasser holt? Du bist nicht bei Verstand, Metzger!«
»In Saint-Malo«, meldete sich ein Torfstecher zu Wort, »hat man die Juden vor kurzem in den Sümpfen erstickt, so sollten wir es hier auch machen.«
»Wir haben keine Sümpfe. Und wir haben auch keine Juden!«, sagte der Stadthauptmann bestimmt. »Lasst also das Gerede über die Juden! Wir müssen überlegen, welche Maßnahmen wir noch treffen können, um die Seuche zu bannen. Die Ärzte beispielsweise…«
»Aber ich rede doch die ganze Zeit von Maßnahmen gegen die Seuche!«, schrie der Metzger. »Juden raus! Oder wir töten sie! Und wenn du diese Gottesmörder weiterhin verteidigst, Stadthauptmann, verlangen wir von dir, dass du dein Amt aufgibst, den Stadtschlüssel abgibst und dein Siegel schließt, verstanden?«
»Du bist so schlimm wie die Geißler, die die Stadt zum Glück wieder verlassen haben und die wir nie wieder hineinlassen werden, Metzger! Außerdem scheinst du blind und taub zugleich zu sein.« Der Stadthauptmann war jetzt rot angelaufen. »Ich sage es jetzt zum letzten Mal: Wir haben keine Juden in der Stadt. Und selbst wenn, hätten sie kaum die Brunnen vergiftet, aus denen sie selbst trinken müssen. Dann wären sie doch völlig verrückt.«
»Unser Stadthauptmann scheint ein Judenfreund zu sein!«
»Er verteidigt sie, weil sie ihm keinen Gewinn verschaffen! Wenn sie es täten, würde er sie töten lassen, um sich ihrer Reichtümer zu bemächtigen. So geschieht es überall!«
»Unsinn!«, schrie ein Kaufmann. »Die reichsten Juden sind immer am Leben gelassen worden, damit man die Schulden eintreiben konnte, die an sie zu zahlen waren. Denn hätte man das nicht gemacht, sondern sie getötet, dann wäre der Erbe ihres Reichtums der König, dem sie unterstehen, und nicht die Stadt, in der sie leben.«
»Hört, hört! Der Wollhändler kennt sich aus.«
Plötzlich erstarrten alle Anwesenden. Das Geläut der Pestglocken drang in den Saal. Vor dem Rathaus wurden offenbar Leichen eingesammelt.
Einer der Anwesenden stand auf, ging zum Fenster und starrte hinaus. Nach und nach folgte ihm der Rest. Und dann sahen alle, was draußen geschah. Sechs Gestalten in bodenlangen, braunen Kutten aus gewachstem Leinen schlurften vorbei. Sie trugen breitkrempige Schlapphüte und lange Handschuhe. Ihre Gesichter wurden von schweren Masken verdeckt, die vor Mund und Nase schnabelförmig zuliefen. In der Spitze des Schnabels befanden sich wohlriechende Kräuter, die die Träger gegen die Ausdünstungen der tödlichen Seuche schützen sollten. Auf Außenstehende wirkten die Maskenträger auf den ersten Blick wie unheimliche Fabelwesen, Menschen in Vogelgestalt. Dass es Pestwächter waren, erkannte man an dem roten Stab, den sie in die Höhe hielten, und an den Glöckchen, die bei jedem Schritt Unheil verkündend läuteten.
»Mein Gott, wie schrecklich!«, rief eine Frau mit heiserer Stimme aus. »Wer will das schon sehen?«
»Es ist die Wirklichkeit, in der wir leben«, erwiderte ein Mann, bevor er wie alle anderen auf seinen Platz zurückkehrte.
»Ab morgen gelten neue Bestimmungen«, unterbrach der Stadthauptmann die atemlose Stille. »Wir werden die neuen Gesundheitsvorschriften öffentlich bekannt machen. Das Wichtigste kann ich euch aber jetzt schon sagen: Straßen
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