Treue in Zeiten Der Pest
Ware mehr angeboten. Die Schiffe liefen nicht mehr aus, sondern dümpelten im brackigen Hafenwasser vor sich hin. In den Straßen lagen Abfall, leere Säcke, umgestürzte Kästen, Fässer, die der Wind mal hierhin, mal dorthin rollen ließ. Und immer mehr Tierkadaver lagen herum. Und dann die vielen Leichensäcke.
Die Stadttore blieben geschlossen. Kein Fremder war mehr in Quimper zu sehen. Die Einwohner, die ihre Häuser am Morgen noch frohen Mutes verließen, kehrten wenig später mutlos zurück, misstrauisch beäugt von ihren Nachbarn. Die Tatkraft ließ mit jedem Tag ein bisschen mehr nach.
Als der Zwischenfall, für den man die Seuche zunächst gehalten hatte, zum Dauerzustand zu werden schien, wurde die Stimmung noch gereizter. Jetzt wollte man endlich wissen, warum es die Ratsherren – genauer gesagt jene, die die Stadt noch nicht verlassen hatten – es zuließen, dass sich die Lage zusehends verschlechterte. Vielleicht waren ja sie, allen voran der Stadthauptmann und der Vogt, schuld an der Seuche. Das zumindest wurde mancherorts jetzt auch gemunkelt.
Nachdem im Rathaussaal die ersten Stimmen laut geworden waren, die in diese Richtung stießen, rief ein Brunnenfeger, von dem man meinte, dass er es wissen musste: »Die wahren Schuldigen sind die Juden, darüber gibt es keinen Zweifel. Ich habe genau gesehen, wie dieser Judenlump ein Pulver in den Schöpfbrunnen vor dem Rathaus gestreut hat. Er tat es in der Nacht, bei Vollmond, und er blickte dabei immer wieder nervös über die Schulter.«
»Und im Nachbarhaus neben der Herberge, in der der Jude gewohnt hat, starb vor ein paar Tagen ein Neugeborenes unter merkwürdigen Umständen. Es wurde sogleich verscharrt.«
»Der Jude wird es ausgegraben und daraus sein Pülverchen gemacht haben!«
»Aber nun hat ihn ja sein gerechtes Schicksal ereilt. Wir alle haben es gesehen. Der Tod höchstpersönlich hat den alten Hexer geschnappt und fortgetragen, wie er es verdient!«
»Ist die Judengefahr damit gebannt?«
Als im Saal immer mehr Stimmen laut wurden, mischte sich der Stadthauptmann ein. »Haltet ein! Lasst uns ein paar Dinge klarstellen.«
»Sprecht zu uns, Verehrtester! Wir warten gespannt auf Eure Erklärungen.«
Der Stadthauptmann rückte seine Kopfbedeckung zurecht und ließ seinen Blick über die Versammlung gleiten. Er war es nicht gewohnt, zu einfachen Menschen zu sprechen, allenfalls gab er ihnen Anweisungen. Er sah die fragenden Gesichter der Färber, Bierbrauer, Lederer, Wäscher, Bader, Wasserbauer und Reiniger. Von seinem Podest aus blickte er auf sie hinab und sagte mit seiner an einen Befehlston gewöhnten Stimme: »Niemand hat Quimper verhext. Kein Einzelner hat Schuld am Ausbruch der Seuche. Damit sie sich nicht weiter ausbreitet, werden wir einiges unternehmen. Verschiedene Maßnahmen sind bereits eingeleitet worden, neue Dekrete sind geschrieben worden und treten morgen früh in Kraft.«
»Was ist mit den Juden?«, rief ein dicker Bader. »Dürfen sie weiterhin ihren Unrat in die Stadtbäche gießen, die zur Odet fließen? Auf diese Weise ist die Seuche doch entstanden! Wollt ihr nichts dagegen tun?«
»Die eigentliche Schuld an der Seuche tragt doch ihr Bader, mit euren ewigen Tinkturen und Extrakten, die uns alle immer nur kränker machen als zuvor!«, meldete sich einer aus der Menge zu Wort.
»Ach was, die Gerber sind schuld!«, rief ein anderer. »Ihre Schabbäume in der Odet nehmen überhand, und überall stinkt es zum Himmel! Kein Wunder, dass die Seuche da zu uns gekommen ist.«
»Der Gestank kommt daher, dass ihr allesamt viel zu viel scheißt, Leute! Welch übler Dunst, man kann geradezu riechen, wie sich die Seuche verbreitet.«
»Unterbrecht mich nicht!«, ermahnte der Stadthauptmann das aufgebrachte Volk. »Lasst mich euch die netten Maßnahmen verkünden, mit denen wir die Seuche in den Griff bekommen wollen: Die Stadttore bleiben auch die nächsten drei Tage geschlossen. Hat die Seuche dann nicht nachgelassen, verlängern wir die Frist um weitere drei Tage, und so weiter. Vor dem südlichen Stadttor ist eine Grube ausgehoben worden, dort hinein werden alle Verstorbenen gelegt und mit Kalk bestreut. Ist die Grube voll, wird daneben eine zweite angelegt. Innerhalb der Stadtmauern wird bis auf weiteres niemand mehr bestattet.«
»Aber nur innerhalb der Mauern befindet sich geweihter Boden! Die Begräbnisse der Seuchentoten wären dann ja allesamt unchristlich«, warf der Glöckner ein.
»Die Seuche selbst ist
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