Treuepunkte
mit mir im Schlepptau, direkt auf ihn zu. Neben Luke steht – was für ein irrer Zufall – Britta: Da macht eine demonstrativ klar, dass sie die ältesten Rechte hat. Es wundert mich nicht. Luke hat sich kaum verändert. Sicher, auch er ist älter geworden, aber auf eine erstaunlich freundliche Art. Das Alter war mit ihm gnädig, sozusagen. Seine Haare immer noch voll, nur leicht ergraut an den Schläfen. Relativ lang und wellig – eigentlich, rein theoretisch, ein wenig zu lang für einen Mann in seinem Alter, aber es steht ihm. Passt zu ihm. Hebt ihn ab von den Einheitstypen. Luke ist groß und kein bisschen fett geworden. Ein leichter Bauchansatz hätte mich schon beruhigt. Er trägt Jeans und hat das Hemd in die Hose gesteckt. Hat es augenscheinlich nicht nötig, durch
einen Anzug eine berufliche Karriere zu demonstrieren wie so viele andere hier. Mit einem breiten Grinsen begrüßt er mich, »Hi, meine Liebe. Andrea, schön, dich endlich mal wiederzusehen.« Wenn der wüsste, was mir dieser winzige kleine Höflichkeitssatz bedeutet! Er weiß, a, wer ich bin, hat mich somit, b, wiedererkannt und c, er sieht aus, als würde er sich wirklich freuen. Das Beste am Satz aber war das Adverb: endlich. Ich strecke ihm meine Hand hin, aber er will die Hand gar nicht, sondern zieht mich gleich in seine schönen Arme. Er hat schon immer herrliche Arme gehabt. Auch heute trägt er die Hemdsärmel hochgekrempelt und genau wie früher sieht man an den Unterarmen die Maserung der Muskulatur. Wie kann dieser Mann eine so schöne Hautfarbe haben? Mitten im Herbst? Er drückt mich an sich. »Das hätten wir beide schon viel früher haben können, du Idiot«, will ich rufen, genieße aber jetzt den späten Sieg. Diese Umarmung lässt mich in der Klassenhierarchie garantiert um einige Plätze höher steigen.
Britta wird auch schon leicht nervös. Sie zerrt Luke von mir weg, weil sie ihn unbedingt mit an den Tisch von Herrn Girstmann nehmen will. Unserem alten Erdkundelehrer, der, als einer der wenigen Lehrer, zum Jahrgangstreffen erschienen ist. »Der ist schon so gespannt auf dich, der Girstmann«, lockt sie den schönen Luke. Ich habe den leisen Verdacht, es geht ihr eher darum, ihn aus dem Dunstkreis von Karolina und mir zu schaffen. »Wir sehen uns noch, wir zwei. In aller Ruhe«, haucht mir Luke ins Ohr und ich kann nur begeistert nicken. Ich bin nun mal nicht so cool, wie ich gerne wäre. Karolina ist ebenso von den Socken wie ich: »Mann oh Mann, was
für ein Kerl!« Obwohl Luke noch weiter nichts von sich erzählt hat, wäre sicherlich mindestens die Hälfte der Frauen hier im Saal bereit, stante pede mit ihm durchzubrennen. Kurz huscht mir Christoph durch den Kopf. Mein Mann. Christoph ist ein guter Fang gewesen, keine Frage. Luke ist aber etwas völlig anderes. Es ist ein bisschen wie beim Fischen in einem Revier, in dem man nichts zu suchen hat. Er ist ein so toller Hecht – um bei der Fischmetapher zu bleiben –, dass Frauen immerzu denken: »Ich, als kleine profane Makrele, habe so einen nicht verdient. Was habe ich für ein unbändiges Glück!« Man wird dankbar, wenn jemand, der augenscheinlich so viel schöner und glamouröser ist, sich für einen interessiert. Klar ist das bescheuert, aber so richtig freimachen kann ich mich von diesen Gedanken auch nicht. Die Luke-Begegnung ist die Wende des Abends für mich. Ich fühle mich wie geadelt. Auserwählt, vor allem, weil er mir beim Weggehen noch zuzwinkert. Karolina und ich trotten nicht hinterher zum Tisch von Herrn Girstmann. Nicht nur, weil Herr Girstmann schon immer ein Depp war und wir Erdkunde gehasst haben, sondern einfach auch, um zu zeigen, dass wir uns hormonell wenigstens noch so weit im Griff haben und nicht wie zwei räudige Hündinnen dem Leckerchen Luke hinterherwinseln.
Ich schlendere umher. Mit Karolina, die augenscheinlich auch froh ist, nicht völlig allein rumzustehen. Wir setzen uns kurz an den Strebertisch. Hier sind tatsächlich alle versammelt, die auch in der Schule gerne in der ersten Reihe gesessen und beim Schwänzen nicht mitgemacht haben: »Nein wirklich, Physik ist doch so interessant, da können wir doch nicht einfach gehen.« Das waren die,
die in puncto Sympathie und Beliebtheit in der Schule sogar noch hinter mir rangiert haben. Was einiges heißt! Bei manchen von ihnen scheint sich das Strebsamsein gelohnt zu haben. Cornelia ist mittlerweile Professorin in Oxford. Für Quantenphysik. Das macht mir schon beim Zuhören Angst.
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