Treuepunkte
begrüßt sie mich. »Guten Abend, Frau Flink«, sage ich nur. Sie zückt ein rotes abgegriffenes Heftchen, das vor ihr auf dem Tisch liegt. »Sie wollen sicher auch wissen, was ich damals über Sie notiert habe.« »Na ja, eigentlich nicht unbedingt«, antworte ich so höflich wie möglich. Spinnt die Alte? Bringt ihr Notennotizheftchen auf ein Jahrgangstreffen mit. Sie blättert. »Wirklich, nein, vielen Dank, das ist doch verjährt«, wehre ich mich so gut es geht. Frau Flink hat sich noch nie für irgendwelche Einwände interessiert. So auch heute Abend. »Andrea, Andrea Schnidt. Ha, da habe ich es doch schon. Wie sagt man schließlich so schön: Iucundi acti labores. Angenehm sind getane Arbeiten. Durchschnittliche Schülerin, freundlich, aber unbegabt für Latein«, lacht sie und redet munter weiter, »mündlich eine knappe Drei, schriftlich Vier. Uninteressiert am Stoff. Unauffällige Person insgesamt.« Sie holt Luft und schaut mich dann erwartungsvoll an. Soll ich mich jetzt freuen, »Hurra« schreien oder ihr vielleicht noch »Danke schön«
sagen? Toll, dass selbst Frau Flink mich als unauffällige Person abgespeichert hat. Welch Auszeichnung. Da ist man ja lieber renitent oder gewalttätig. Unauffällig ist eine der schlimmsten Beleidigungen überhaupt. Sie wartet auf eine Reaktion. »Sehr aufschlussreich«, sage ich, um sie ruhigzustellen. Die ist noch ganz genauso blöd wie früher. Älter, aber genauso blöd. Mett-Mischi lacht mal wieder. Ich will sagen: »Hör auf, du musst ihr nicht mehr in den Hintern kriechen und rumschleimen, du hast dein Abitur schon«, verkneife es mir aber. Im Stillen denke ich nur: »Wenn Sie wüssten, Frau Flink.«
Frau Flink war nämlich die Einzige, bei der ich mal richtig frech und ungezogen war. Auf einer Klassenfahrt im Bayerischen Wald. Wir wollten nach Amsterdam, aber Frau Flink, damals unsere Klassenlehrerin, hat sich stattdessen für den Bayerischen Wald entschieden. Und dort hat sie rund um die Uhr genervt. Zimmerkontrolle im Zwei-Stunden-Rhythmus – selbst nachts –, stundenlange Wanderungen ohne erkennbaren Sinn und Zweck und dazu ständige Vorträge über die Jugend an und für sich. Morgens gab es für uns Kamillentee, nur Frau Flink bekam Kaffee. Und da hatten wir die Idee. Wenn wir sie außer Gefecht setzen würden, hätten wir wenigstens kurz unsere Ruhe. Heiner wusste auch schon wie. Zufällig hatte er auch das passende Mittel dabei. »Abführtropfen, absolut geschmacksneutral. Die kippen wir der Hexe in ihren Kaffee und dann kommt die vom Klo nicht mehr runter und wir haben endlich Zeit, Spaß zu haben.« Eine geniale Idee. Nur die Umsetzung war kompliziert. Wie der Flink Tropfen in den Kaffee tun, ohne dass sie es bemerkt? Die Flink war ein Fuchs. Ein verdammt aufmerksamer
Fuchs. Heiner wusste auch hier die Lösung: »Schnidt, du bequatschst die Flink, bei dir schöpft keiner Verdacht, und ich schütte ihr die Tropfen in den Kaffee.« Natürlich hatte ich Angst. Angst, erwischt zu werden. Aber das zuzugeben, wo soeben einer der coolen Jungs mich, die unsichtbare Andrea, um Hilfe gebeten hatte, das ging natürlich gar nicht. Ich habe fast gezittert vor Aufregung, aber meine Sache nicht schlecht gemacht. Als die Flink sich ihr Tässchen Kaffee eingeschüttet hat, bin ich hin. »Frau Flink, es ist mir peinlich, aber ich glaube, ich habe eine Zecke.« »Zeig her, Andrea«, hat sie geantwortet und schon mal einen ersten Schluck genommen. »Himmel, hoffentlich hört die bald auf zu trinken, sonst ist ja nichts mehr übrig, wo wir das Abführmittel reinschütten können«, habe ich nur gedacht und gesagt: »Können Sie eben mit rauskommen, das ist mir peinlich, hier vor allen.« Sie hat gestöhnt, was von Zickigkeit gemurmelt, sich aber tatsächlich erhoben und ist mit mir auf den Flur geschlurft. Beim Vorbeigehen nickte ich Heiner zu. Umständlich habe ich mir das T-Shirt hochgezogen und auf einen kleinen Stich gezeigt, den ich am Rücken habe. Sie hat nur einen kurzen Blick draufgeworfen und gesagt: »Meine Güte, das ist keine Zecke, sondern ein Stich. Das hätte ich selbst dir zugetraut, das zu unterscheiden.« Zack. Sie streifte mein T-Shirt unsanft wieder nach unten und marschierte im Stechschritt zurück in den Frühstückssaal. Hoffentlich war Heiner fertig! Minuten vorher war ich noch unsicher gewesen, ob sie die Tropfen wirklich verdient hätte, doch da hätte ich sie ihr am liebsten persönlich verabreicht. »Hexe, du wirst gleich sehen«, habe ich
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