Treuepunkte
voller Traurigkeit. Er hat Annegret immer vergöttert. »Sie ist überfahren worden. Von ihrem eigenen Mann. Aus Versehen. Auf dem Campingplatz. Der wollte das Wohnmobil umparken, weil es nicht optimal stand, und hat nicht gesehen, dass seine Frau hinter dem Wohnmobil gerade einen Hering aus dem Boden ziehen wollte.« Ich habe Camping immer gehasst. Wie grauenvoll.
Für beide. Allein die Vorstellung! Den eigenen Mann zu überfahren, grässlich. Noch grässlicher natürlich, wenn man die Überfahrene ist. Wieso habe ich das alles nicht mitbekommen? »Wann ist denn das passiert?«, frage ich nach. »Am ersten Tag der Flitterwochen. Die waren nach Südfrankreich aufgebrochen und haben in der Schweiz auf dem Campingplatz übernachten wollen. Und da ist es passiert. In der Dämmerung. Vier Tage nach der Hochzeit.« Das wird ja immer schlimmer. »Annegret hat geheiratet?«, will ich jetzt auch die Details. »Na klar. Den Gunther«, informiert mich Julius und kratzt sich dabei nachdenklich an einem sehr bedenklich aussehenden Pickel. Meine Güte, was die Hautstruktur angeht, hat sich beim Julius wirklich nichts verändert. Der Arme. Fast schon in der Midlife-Crisis und Pusteln wie zur Blütezeit der Pubertät. Bitter. Und die Hochzeit von Annegret muss auch ein harter Schlag für ihn gewesen sein. »Welchen Gunther?«, bleibe ich beharrlich. »Den Physik-Gunther? Den Jeckel?« Die hat unseren Lehrer geheiratet? Den Physiklehrer? Und zur Belohnung wird sie von ihm überfahren. Julius sieht aus, als würde er gleich weinen. Der arme kleine Kerl. Von einem Lehrer ausgebootet zu werden, einem viel älteren, nicht die Spur attraktiven Lehrer, ist schlimm. Dass der dann die Angebetete auch noch umbringt – doppelt schlimm. »Es war die furchtbarste Beerdigung überhaupt«, fährt Peter nun fort, obwohl auch er sicherlich gemerkt hat, dass Julius am Ende ist. »Der Jeckel wäre fast in das Erdloch hinterhergesprungen.« Was für ein Drama! Obwohl der Vorfall fast zehn Jahre zurückliegt, wie Peter dann weiter berichtet, leidet Julius offensichtlich immer noch. Er weint. Was in diesem
kleinen Mann an Gefühl steckt, unglaublich. Warum bloß habe ich nach Annegret gefragt und damit alles, was an Stimmung da war, mit Brachialgewalt zerstört?
Ich nehme Julius in den Arm. Schließlich war ich es, die ihn zum Weinen gebracht hat. Er schnieft noch zweimal demonstrativ und beruhigt sich dann, will aber offensichtlich nicht raus aus meinem Arm. »Ich habe dich immer gemocht«, gesteht er mir dann auch noch. Hilfe! Nicht, dass Julius hier was missversteht. Das war Trost – keine Annäherung. Bei allem Mitleid muss ich das dann doch deutlich machen. »Julius, ich bin verheiratet und habe zwei Kinder«, gebe ich ihm überdeutlich zu verstehen, dass da gar nichts drin ist. »Na und«, schnüffelt er nochmal, »das macht mir nichts. Auch die Kinder nicht.« »Aber mir«, sage ich, »ich bin recht glücklich, so wie es ist.« Das sollte ja wohl reichen. Ich kann nach diesem Gespräch ja schlecht schreien: »Nimm deine Finger von mir, Winzling.« Aber er versteht auch so und rückt wieder ein wenig von mir ab. Zum Glück, sonst hätte ich irgendein ekliges Ekzem erfinden müssen. Aber so riesig, wie sein Notstand scheint, wäre ihm wahrscheinlich sogar auch das egal gewesen.
Als ich mich nach Karolina umschaue, ist sie nicht zu sehen. Da hat sie hier aber ganz schön was verpasst. Hat es wahrscheinlich vor lauter Sehnsucht nach Luke nicht mehr ausgehalten. Sollte ich mich auch lieber in die Luke-Warteposition begeben? Nein. Eine gesamte Schulzeit ›Warten auf Luke‹ muss reichen. Heute Abend soll der kommen. So weit habe ich mich durchaus im Griff und der Abend ist ja noch lang. Außerdem gibt es, jetzt wo ich schon mal hier bin, noch einiges zu entdecken.
Mittlerweile spielt auch eine Band. Freunde von Mett-Mischi. So ist auch die Musik. Mett-Mischi-Musik eben. Apropos Mett-Mischi. Wo steckt der eigentlich? Mit dem habe ich noch das Poncho-Hühnchen zu rupfen. Immerhin bin ich eine dicke Freundin seiner Ex-Sabine und da hätte er sich diese blöde Bemerkung gut sparen können. Ich begebe mich auf Mett-Mischi-Suche. Er sitzt neben Frau Flink. Unserer ehemaligen Lateinlehrerin. Wie kann der sich nur freiwillig zu dieser Hexe setzen? Die Flink war einer meiner Schulschrecken. Ich wäre fast sitzen geblieben wegen Frau Flink. Bevor ich mich schnell wieder verdrücken kann, hat sie mich auch schon erspäht. »Ach, das Fräulein Andrea«,
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