Treuepunkte
Ich habe nicht den blassesten Schimmer, worum es bei Quantenphysik überhaupt geht. Wie schlau Menschen sein können! Und selbst optisch hat sie sich gemacht. Sie sieht sogar recht nett aus. Eigentlich ist sie bei gründlicher Betrachtung ziemlich hübsch. Und recht zutraulich. Wir reden mehr als in der gesamten Schulzeit. Ihr Mann (ja, auch so schlaue Frauen haben Männer, allerdings gestaltet sich die Partnersuche aber, laut Untersuchungen, schwerer als bei durchschnittlich Begabten wie mir) ist Engländer und Richter am High Court in London. »So einer mit weißer Langhaarlockenperücke?«, frage ich neugierig. Wie aufregend! Wer hätte das gedacht. »Und was für einer Perücke«, lacht sie, »da ist mehr Haar dran, als wir beide zusammen haben.« Der kann ich auch mit meiner doppelten Dosis Schaumfestiger nichts vormachen. Frauen erkennen auch gut getarntes Elend sofort. Wir alle lesen ja schließlich die immergleichen Tipps in Frauenzeitschriften: »Tragen Sie lange Jacken, um korpulentere Hüften zu kaschieren.« Also weiß jede: Die trägt diese lange schwarze Jacke doch bestimmt nicht zum Spaß, sondern weil sie um die Hüften rum fett ist. Cornelia und ich schwätzen und ich bin total überrascht. Diese Frau habe ich eigentlich jahrelang nicht wahrgenommen, nur als blöde Streberin gesehen. Wir hätten eine herrliche Zeit zusammen haben können, aber ich war ihr nicht gewogen, nur weil sie gut in der
Schule war. »Ich bin so froh, dass die Schule vorbei ist«, gesteht sie mir. »Ich habe es gehasst, immer nur schlau zu sein. Schlau ist so was von unsexy. Aber Schwamm drüber«, beendet sie das Thema, »wenn du je Lust hast, nach Oxford zu kommen, Andrea, du bist herzlich eingeladen.« Ich schäme mich. Rückwirkend.
Karolina ist unkonzentriert, weil sie nebenher ständig versucht, den Tisch von Herrn Girstmann und somit auch Luke nicht aus den Augen zu lassen. »Britta war schon oft genug an dem dran, jetzt sind wir dran!«, tönt sie nach dem vierten Bier. Ich bin beeindruckt, mit welcher Geschwindigkeit Frau von und zu Tierfutter die Bierchen abkippt, vor allem, ohne dass man ihr den steigenden Alkoholpegel anmerkt. Das sieht nach einer gewissen Routine aus. Ob der Giorgio auch so pichelt? Trinken die Italiener nicht eher Wein? »Ich gehe jetzt mal rüber zu denen, dem Girstmann ›hallo‹ sagen«, teilt sie mir nach dem fünften Bier mit. Dem Girstmann ›hallo‹ sagen! Wie witzig! Aber von mir aus. »Wenn du meinst«, sage ich nur ganz entspannt. Ich bleibe gelassen am Strebertisch, der erstaunlich amüsant ist. Was die ablästern. Wahrscheinlich späte Rache. Neulich saß Peter (Mathe und Chemie Leistungskurs, forscht heute am Max-Planck-Institut für irgendwas Unaussprechliches) im Taxi und als der Fahrer sich umdreht, war es wie in dieser Werbung mit dem Moped, erzählt er freudig und mit ein ganz klein wenig Häme im Gesicht. Am Steuer saß nämlich Heiner. Heiner war eine B-Pressung von Luke. Auch recht hübsch, eine riesige Klappe und ebenfalls sehr begehrt bei den Mädchen. Heiner hatte die angesagten Platten, Eltern, die nie zu Hause waren und einen Partykeller
mit roter Glühbirne. Heiners Partys waren legendär. Rauchen, kiffen und natürlich ordentlich Alkohol. Dazu Pink Floyd in der Endlosschleife. Heiners schulisches Desinteresse war allerdings auch legendär. Heiner hat jeden Lehrer angemacht, die meisten Einträge bekommen und mehr Termine beim Direktor gehabt als dessen Sekretärin. »Der hatte nicht mehr viel vom großspurigen Heiner von damals«, schildert uns Peter seine Taxifahrt. »Im Gegenteil, er hat mich gefragt, ob ich nicht von einer Wohnung wüsste. Für ganz kleines Geld. Er lebt mittlerweile im ehemaligen Partykeller seiner Eltern. Ist ne richtig arme Wurst. Und gut Autofahren kann er auch nicht.« Ich verstehe Peters späten Triumph, aber ganz so gehässig muss man ja auch nicht sein.
»Was macht die Annegret eigentlich?«, will ich wissen. Annegret war auch eine aus der Streberfamilie. Die Streber scheinen ja gut informiert zu sein. Bei der Annegret-Frage herrscht allerdings verdächtiges Schweigen. »Ja, weißt du das denn nicht?«, gucken mich alle erstaunt an. »Nee, was denn, ist sie Millionärin oder was? Hat sie etwa einen Nobelpreis bekommen, ohne dass ich es bemerkt habe?«, antworte ich gutgelaunt mit einer Gegenfrage. »Nee, die ist keine Millionärin oder Nobelpreisträgerin, sondern tot«, sagt Peter und der kleine pickelige Julius nickt nur mit einem Blick
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